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Inklusion an der SchuleWenn nur die Praxis nicht wäre

Die UN verlangen, dass behinderte Kinder normale Schulen besuchen sollen. Was dem im Wege steht, war Thema einer Konferenz.

Gelingende Inklusion: Schülerinnen in NRW. Bild: dpa

BERLIN taz | Strichmännchen-Cartoons. Wohlfühlmelodie. Der Einspielfilm erklärt, was mit dem großen Wort Inklusion gemeint ist: wenn alle mitmachen dürfen. Wenn keiner mehr draußen bleiben muss. Untertitel sind eingeblendet. Eine Gebärdendolmetscherin übersetzt.

Arbeitsministerium, Bildungsministerium und Kultusministerkonferenz haben sich alle Mühe gegeben, ihre hochrangig besetzte Konferenz zum gemeinsamen Lernen von Behinderten und Nichtbehinderten Anfang dieser Woche barrierefrei zu gestalten. Nur an die Blinden hatte niemand gedacht. Ein Teilnehmer steht auf und macht sich Luft: Es wäre ja schön gewesen, wenn es die Einspielfilmchen auch in einer Audiofassung gegeben hätte.

Das Beispiel zeigt, wie weit allen Bekundungen zum Trotz noch der Weg ist zur Inklusion. Wie heikel das Thema ist, wie vermint das Terrain. Vor vier Jahren hatte Deutschland die UN-Behindertenrechtskonvention unterzeichnet. Die Folge: Aus dem gut ausgebauten Sonder- und Förderschulwesen muss eine gemeinsame Schule für Kinder mit und ohne Behinderung werden. Bloß, wie stellt man das an? Und wie schnell kann das funktionieren? Darüber gingen die Meinungen zwischen Vertretern aus Politik und Wissenschaft auseinander.

„Die Möglichkeiten der letzten 15 Jahre wurden versäumt“, bilanzierte der Bildungsforscher Horst Weishaupt. „Die Entwicklung ist nicht so vorangegangen, wie man es sich gewünscht hat“, sagt er. Statt überstürzt Inklusion nachzuholen, müssten die Skeptiker überzeugt werden.

Ein Hinhalteargument, meint Hubert Hüppe (CDU), der Beauftragte der Bundesregierung für die Belange behinderter Menschen: „Man kann nicht warten, bis das jeder verstanden hat.“ Inklusion sei keine Großzügigkeit, sondern ein Menschenrecht. Punkt.

„Schule völlig neu denken“

Stephan Dorgerloh (SPD), Bildungsminister in Sachsen-Anhalt und derzeit Präsident der Kultusministerkonferenz, streitet das freilich nicht ab. Nur: „Das ist ein richtig dickes Brett, das wir bohren“, sagte er. „Wir müssen Schule völlig neu denken.“

Zum Beispiel die Lehrerausbildung. Das Thema Inklusion kommt erst allmählich in den Universitäten und Studienseminaren an. „Bis das durchwächst, braucht es eine Weile“, so Dorgerloh. Bildungsforscher Weishaupt plädierte dafür, zunächst vor allem die Rektorinnen und Rektoren fortzubilden – um starke Inklusionsfürsprecher an den Schulen zu haben.

Eine große Frage war, was langfristig mit den Sonderpädagogen passieren soll. Sollen sie aus den Förderschulen als Hilfskräfte in die normalen Klassenzimmer geschickt werden – auf die Gefahr hin, dass die Fachlehrer ihre Problemschüler zu ihnen abschieben und sich nicht mehr verantwortlich fühlen? Oder muss die Trennung zwischen Fachlehrern und Sonderpädagogen obsolet werden?

Die Antwort hatte keiner der Beteiligten auf dem Podium. Nur so viel mochte Bildungsforscher Weishaupt festhalten: „Das werden wir in den nächsten Jahren noch ausführlich diskutieren.“

Dass Inklusion anders als im wohligen Einspielfilmchen sogar neue Ausgrenzungen zu schaffen vermag – auch das war den Diskutanten bewusst. Eine Studie der privaten Bertelsmann-Stiftung zeigte kürzlich, dass zwar immer mehr behinderte Kinder eine Regelschule besuchen – gleichzeitig aber auch immer mehr Kindern ein Förderbedarf diagnostiziert werde.

Der Landesrechnungshof NRW rügte kürzlich, dass die Schulen das Behinderungsetikett leichtfertig vergäben, um Fördermittel zu bekommen. Inklusion inflationiere Behinderung. Kultusministerpräsident Dorgerloh: „Da erzeugen wir ein Problem neu, das wir abschaffen wollen.“

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6 Kommentare

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  • L
    lowandorder

    @von guido:

     

    "…Hier geht es doch nicht um Behinderte, sondern um den Versuch, die Sonderschulen einzusparen und diese Menschen ohne große Investitionen in die Regelschulen zu drücken, die bereits jetzt kaum noch funktionsfähig sind. …"

     

    Tja - so kann man sich irren;

    hab ich doch glatt gedacht, es ginge um Behinderte;

    - klar, daß ich dann keinen vernünftigen Standpunkt

    in Ihrem Sinne entwickeln kann.

     

    ps Reichwald ist dann später Sonderschullehrer geworden.

    Aber egal - heute ist ja eh alles ganz anders;

     

    Pps 'halt mal die Klappe, wenn erwachsene Durchblicker

    sich unterhalten' - kommt mir irgendwie bekannt vor.

    'Er war Lehrer - und sie schnitt die Kartoffeln

    auch mit dem Messer', allerdings auch.

     

    klar - Kinder stören einfach - irgendwie.

    "…jedes Kind, das mehr Aufmerksamkeit braucht oder stört,

    hindert die anderen am Erreichen der Schulabschlüsse

    - und das ist kein Spaß für die Eltern dieser Kinder. …"

    Sach ich doch - so alt, wie der Bart des Propheten,

    deswegen werden ja solche "Elemente"

    schon entfernt - schon immer.

     

    Aber Sie - is schon klar ( har'ik nich jelernt wa;

    oder - "dafür sind wir nicht angetreten", früher)

    "…, das müssen die Fachleute machen.

    Ich werde das nicht machen.…"

    Na bitte, geht doch; paßt schon.

  • G
    guido

    @lowandorder

    Schön, dass Sie mit Ihrem Leben zufrieden sind. Ihre Erfahrungen haben jedoch mit den Problemen, die den Schüler/innen und den Lehrkräften künftig aufgebürdet werden sollen, kaum etwas zu tun. Hier geht es doch nicht um Behinderte, sondern um den Versuch, die Sonderschulen einzusparen und diese Menschen ohne große Investitionen in die Regelschulen zu drücken, die bereits jetzt kaum noch funktionsfähig sind.

    Darauf hinzuweisen ist also geboten und kein Zeichen von Abneigung gegenüber Menschen mit Behinderungen.

    Ein von Ihnen beschriebener Körperbehinderter ist unterrichtlich völlig unproblematisch, bei "normalem" Lernverhalten. Unser Problem sind

    Verhaltensauffällige oder schwer lernbehinderte junge Menschen, die eben nicht klassisch schulfähig sind, weil sie nicht mit 25-30 anderen „funktionieren“. Sie brauchen Expert/inn/en und kleine Gruppen - Förderschule eben - oder man müsste alle Klassen so klein machen - aber sagen Sie das mal den Schulministerien.

    Durch mediale Überbelichtung (Smartphone-Sucht) und den Zeitgeist (sind wir alle individuell, divers und gegendert...) kann man heute kaum noch 30 (nicht-zertifiziert-behinderte) mehr gleichzeitig "unterrichten". Die Probleme werden durch zusätzlich mehrere z. B. (anerkannte) Lernbehinderte ins Unlösbare gesteigert. Dann müssen wegen Chaos wieder die Eltern mit den Kindern lernen - finden sie das besser? Das ist die Rückkehr der Sozialauswahl. Und die Privatschulen freuen sich.

    Mein Vater hat 1960 auch 60 Kinder unterrichtet - damals ging das, weil alle gleichartig, wenn auch autoritär, erzogen waren - oder vor Ort wurden - oder von den Eltern nach Beschwerde des Lehrers verprügelt wurden. Diese „Methoden“ sind mittlerweile natürlich zu Recht verboten.

    Heute müssen Schulen mit dem klarkommen, was die äußerst verschieden ge- und überforderten Eltern Ihnen abliefern. Gleichzeitig sollen aber alle "individuell gefördert" werden...

    Ich wage zu behaupten, dass da auch Ihr Volksschul-Vorbild nicht mehr lang klar käme - oder zwischen den Forderungen von Schulaufsicht, Kindern und Eltern zerrieben würde.

    Niemand will Menschen mit Behinderungen aus der Schule raushalten - aber es müssen die notwendigen kleinen Gruppen (max 25 mit 2 Lehrkräften) und die qualifizierten Sonderpädagoginnen (immer) da sein.

    Das derzeitige "Normal"-Schulsystem basierte immer auf der "Schulfähigkeit", dem Halbtagsbetrieb und der Mitarbeit der Eltern bei den Hausaufgaben. Dafür war es schön billig - volle Klassen, wenig Unterricht, kein Mittagessen usw.

    Bitte akzeptieren Sie, dass der Blick von Lehrkräften auf diese „Schöne Neue Welt“ des angeblichen ““Inkludierens““ von Mangel und Aggressionen geprägt sein wird - jedes Kind, das mehr Aufmerksamkeit braucht oder stört, hindert die anderen am Erreichen der Schulabschlüsse - und das ist kein Spaß für die Eltern dieser Kinder.

    Ich arbeite gern in der Schule - und was ich nicht gelernt habe (Sonderpädagogik), das müssen die Fachleute machen. Ich werde das nicht machen.

    PS Weder Sitzenbleiben noch Weltkrieg halte ich für notwendig, um zum Bildungselend eine vernünftige Position zu vertreten.

  • L
    lowandorder

    Ladehemmung oder mailmotten? 2.0

     

    19.06.2013

    INKLUSION AN DER SCHULE

    Wenn nur die Praxis nicht wäre

    &

    @von Wolgang Banse:

    …genau deswegen geht es per ordre mufti

    eben ( allein) nicht;

    &

    @von Burghard Schmanck:

    "…biste Rabulist, dann lies mal deinen…"

    eben - am Schluß wird klar,

    Ihnen paßt die ganze Richtung nicht;

    Empathie ist Ihnen ein Fremdwort;

    ihre Kinder sollen nicht behindert werden

    - beim Lernen für den Aufstieg…- wohin auch immer!

    Mit Herrn Banse zu recht gesprochen:

    Menschenrecht ist Ihnen, was Ihnen nützt;

     

    als von Kindesbeinen mit behinderten Menschen

    aufgewachsen, sag ich mal: dümmer wird man dadurch

    nicht, kann vielmehr sehr viel leichter als andere

    mit der Vielfalt des Lebens - zu der bekanntlich

    Behinderungen genauso wie Begabungen gehören -

    umgehen.

     

    Vulgo: wenn Sie ab der Mittelstufe täglich einen Mitschüler

    mit Muskelschwund in einer Penne in einer reformierten Klosterschule,

    also ohne Aufzug treppauf/treppab getragen haben,

    dann - mit Verlaub - schreibt man nicht solch

    kaltherzigen Stuß.

     

    Dazu sind der nicht von der Hand zu weisenden

    Probleme wahrlich zu viele; auch aufgrund

    der hartmäulig machenden geschichlichen

    Erfahrung - auch der BRD wie der DDR!

     

    Und ich ziehe noch heute vor meinem Volksschullehrer

    Reichwald den Hut, der es großartig schaffte,

    eine Klasse zu unterrichten - voller Flüchtlingskinder -

    in der mehrheitlich russisch, polnisch und lettisch

    gesprochen wurde.

     

    Daß auch dies - einschl. labeling - mir zweimal

    Backenbleiben eingebracht hat, so what?

    (auch dank meiner aufgrund von zwei Weltkriegen

    lebensklugen Eltern.)

  • BH
    B. H.

    Papier ist geduldig - fragt sich, ob es die Inklusion auch ist.

    Schon heute findet man in jeder Klasse mehrere Kinder mit Verhaltensauffälligkeiten, sonderpädagogischem Förderbedarf, ADHS, Asperger und und und. Schon heute ist die Mehrheit der Lehrerschaft heillos überfordert mit diesen Schülern. Die Klassenverbände bestehen in der Regel aus 25 bis 30 Schülern. Unter den gegebenen Umständen an Deutschlands Schulen, verkraftet niemand noch mehr Schüler mit ausgeprägten Defiziten, in welchem Bereich auch immer. Und dass sich kurzfristig unser gesamtes Bildungssystem ändert, ist kaum anzunehmen. Denn dafür müssten Summen in die Hand genommen werden, die den Kultusministern der Länder die Schweißperlen auf die Stirn treiben dürften. Also werden die Klassen überstrapaziert, müssen noch mehr Kinder aufnehmen (die vielleicht an Förderschulen besser aufgehoben wären) und am Ende stehen alle dumm da. Die kranken, wie die gesunden Kinder und die Lehrer, denen die Grundlage ihrer pädagogischen Arbeit entzogen wird. Ich kann aus Erfahrung sagen, dass 1 (!) verhaltensauffälliger Schüler ausreicht, um den Unterricht langfristig zu stören. Täglich! Zu Lasten derer, die lernen wollen! Mag man sich die Situation vorstellen, wenn plötzlich gleich 3 oder vielleicht noch mehr solcher Kinder den Unterricht crashen? Nicht wirklich, möchte man meinen.

    Inklusion....ja. Jedoch nur, wenn die Voraussetzungen dafür geschaffen sind. Und das sind sie bei weitem nicht.

  • BS
    Burghard Schmanck

    Die Ausgangsfeststellung des Artikels "Die UN verlangen, dass behinderte Kinder normale Schulen besuchen sollen" ist unzutreffend. Das Wort "Inklusion" kommt im gesamten Artikel 24 der Konvention über Behindertenrechte kein einziges Mal vor. Die englische Textfassung spricht in 24,1 von “an inclusive education system”, in der deutschen Übersetzung ist das “ein integratives Bildungssystem”. Das bedeutet, daß nicht die einzelne Lerngruppe oder Schulklasse behinderte Kinder integrieren soll, sondern das Bildungssystem als Ganzes. Dieser Anforderung genügt das differenzierte deutsche Schulsystem vollauf. Ein Menschenrecht für Behinderte auf Unterrichtsteilnahme in einer Lerngruppe, deren Unterricht sie nicht zu folgen vermögen, ist nirgendwo beschlossen und kodifiziert.

  • WB
    Wolgang Banse

    Was bedarf es der Konferenzen,wenn die UN

    Behindertenrechtskonventiondie auch dieInklusion beinhaltet ganz klare Vorgaben gibt,die umgesetzt werden müssen.Taten sind gefragt,nicht Erklärungen