Inflation bremst Indiens Aufschwung: Ende der Goldgräberstimmung
Die Regierung in Delhi steckt in der Klemme. Was passiert in einem rasant aufstrebenden Land, wenn die Preise nicht mehr stimmen und die Investoren unruhig werden?
DELHI taz Lange schien der indische Boom kein Ende zu nehmen. Berichte über ein Wachstum im zweistelligen Prozentbereich ließen glauben, Indien werde ganz sicher innerhalb der nächsten zwei Jahrzehnte zu einer der größten Wirtschaftsmächte der Welt aufsteigen.
Der indische Aktienindex Sensex brach einen Rekord nach dem anderen. Manche Aktien verachtfachten ihren Wert innerhalb von fünf Jahren. Bei der jungen, gut ausgebildeten Elite in den Metropolen war "job hopping" zu einer Art Sport geworden. Eine andere Firma zahlt mehr? Sofort wurde der alte Vertrag gekündigt und der neue unterschrieben. Es herrschte Goldgräberstimmung.
Beschwichtigende Worte, die Wirtschaft drohe zu überhitzen, wurden ignoriert. Ebenso die Warnungen, bei dem Aktienboom handele es sich in Teilen um eine Spekulationsblase. Doch dann ging alles ganz schnell. Zuerst brach im Februar der Aktienkurs des Energieriesen Reliance Power innerhalb eines Tages um ein Fünftel ein. Andere Aktien folgten dem Abwärtstrend. Ausländische Investoren vor allem aus den USA wurden unruhig.
Als Nächstes fegten mörderische Taifune über China und Südostasien. Vielerorts wurde die Ernte zerstört, die Lebensmittelpreise nahmen weltweit massiv zu - nicht zuletzt auch aufgrund der weltweit steigenden Nachfrage und der Spekulation in den Industrienationen. Der Ölpreis stieg unterdessen unaufhaltsam, ebenso der Stahlpreis. Indiens Währung, die Rupie, begann an Wert zu verlieren. Das Wirtschaftswachstum verlor an Fahrt, die Inflation stieg auf ein 13-Jahres-Hoch und liegt derzeit bei nahezu 12 Prozent. Der Aktienindex Sensex sank vor wenigen Tagen so tief wie seit vier Jahren nicht mehr.
Bis dahin verzeichnete Indiens Wirtschaft das zweitschnellste Wachstum auf der Welt - direkt hinter China. Denn Indien verfügt über einen riesigen Binnenmarkt, der nach Konsumgütern aller Art geradezu schreit. Die waren in der Planwirtschaft in den ersten vier Jahrzehnten seit der Unabhängigkeit 1947 kaum zu bekommen oder unerschwinglich. Wegen des enormen Nachholbedarfs ist eine wirkliche Wirtschaftskrise wohl nicht zu befürchten. Vielmehr wird Indien die kommenden Jahre moderater wachsen, sind sich die Analysten einig.
Doch der Teufelskreis aus gestiegenen Preisen und dem sinkenden Wert der Rupie macht sich vor allem für die städtischen Armen deutlich bemerkbar, die oft die Hälfte ihres Einkommens für Lebensmittel ausgeben müssen. Der Preis etwa für Zwiebeln stieg landesweit binnen einem Jahr um die Hälfte, Reis verteuerte sich um 40 Prozent. Die Zentralregierung in Delhi rudert mit allen Mitteln dagegen. Sie verbot die Ausfuhr vieler Reissorten, die Einfuhrzölle für Speiseöl wurden ausgesetzt, die Zölle für viele andere Lebensmittel gesenkt. Denn wiederholt war es bei Protesten gegen die hohen Preise zu Zusammenstößen zwischen Sicherheitskräften und Demonstranten gekommen.
Die Regierung in Delhi steckt nun in der Klemme. Sie hat Milliarden in Armutsbekämpfungsprogramme gesteckt, etwa in ein Beschäftigungsprogramm für ländliche Familien. Doch die Preissteigerungen drohen die Erfolge zunichtezumachen. Die regierende Kongresspartei ist in Sorge: Die Stimmung im Land ist schlecht. In den kommenden Monaten stehen in mehreren Bundesstaaten Wahlen bevor. Spätestens Anfang 2009 wird ein neues Zentralparlament gewählt.
Nun richten sich alle Blicke auf die kommende Ernte: Es ist gerade Regenzeit in Indien, und in allen Landesteilen ist der Regen ausreichend. Fällt die Ernte gut aus, dann werden die Lebensmittelpreise wieder sinken und die Inflation somit abnehmen. Indiens Regierung könnte dann erleichtert in das Wahljahr 2009 gehen. SASCHA ZASTIRAL
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