: Inferno in einem Dorf
Rußlands Armee leitet Schlußoffensive gegen Geiselnehmer und ihre Opfer in Perwomaiskaja ein ■ Von Barbara Kerneck
Der Kampf zwischen tschetschenischen Terroristen unter der Führung von Dudajew-Schwiegersohn Salman Radujew und Sondereinheiten der russischen Föderation um das, was einmal das Dörfchen Perwomaiskaja an der dagestanisch-tschetschenischen Grenze gewesen ist, hat gestern seine Schlußphase erreicht. Drei Tage lang illuminierten Leuchtraketen und Flammenwände das Inferno, in dem der kleine Ort ausradiert wurde. Tiefflieger, deren Aufgabe es sein sollte, die Terroristen unter Psychoterror zu setzen, erzeugten bei den EinwohnerInnen der Nachbardörfer Angst und Schrecken.
Flüchtlinge aus Perwomaiskaja, die sich ins das benachbarte Sowjetskoje gerettet hatten, kommentierten gegenüber JournalistInnen die Zerstörung der einzelnen kleinen Flachbauten. „Dort stand all mein Vieh“, sagte ein Mann, als eine Rakete einschlug. „Jetzt hat es die Schule getroffen, das ist das Ende“, meinte ein anderer. Ein dritter erklärte, daß es in dem bombardierten Dorf praktisch keine Keller gebe, in die sich die zurückgebliebenen Verwandten flüchten könnten. Neun Geiseln konnten am Dienstag wie durch ein Wunder aus dem Gemetzel fliehen. Sie widersprachen den Meldungen des russischen Sicherheitsdienstes FSB, denenzufolge die tschetschenischen Freischärler am Montag früh zwei Älteste des dagestanischen Volkes und eine Handvoll russischer Milizionäre als Geiseln erschossen hätten. Dieser angebliche Vorfall war von russischer Seite als Anlaß für den Sturm bezeichnet worden.
Die russische Öffentlichkeit erreichen nur vom Geheimdienst gefilterte Nachrichten aus der eigentlichen Kampfzone. ZivilistInnen und JournalistInnen wurden von dagestanischen Milizen und russischen Sicherheitsdienstlern im Abstand von fünf Kilometern von den eigenen Panzern ferngehalten. Der Oberst und Pressesprecher des föderalen Sicherheitsdienstes FSB, Alexander Michajlow, berichtete gestern mittag bei einer improvisierten Pressekonferenz am Feldrain vor Perwomaiskaja, in der vorhergehenden Nacht sei es gelungen, eine weitere Gruppe von achtundzwanzig Geiseln zu befreien. Falls seine Zahlen stimmen, müßten über hundert Männer und Frauen übriggeblieben sein, die das Schicksal der Terroristen in dem Flammenmeer teilen. „Jetzt kann keine Rede mehr von der Rettung friedlicher BürgerInnen sein“, sagte Michajlow, als er zum Endkampf aufrief – und wollte damit wohl andeuten, daß alle bereits umgekommen seien.
Wie Beelzebub den Teufel beschuldigte er im gleichen Atemzug Radujew, gezielt Häuser dem Erdboden gleichgemacht zu haben, in denen Geiseln zusammengepfercht waren. Weiter berichtete der Sprecher des Sicherheitsdienstes, im Dorf befänden sich etwa 250 Freischärler. In der Nacht vom Dienstag zum Mittwoch habe man mit Erfolg einen Verstärkungstrupp von General Dschochar Dudajew für seinen Schwiegersohn gestoppt.
Die von Präsident Jelzin gebilligte Operation der Elitetruppen überwachen vor Ort FSB-Direktor Barsukow und Innenminister Kulikow. Die Tageszeitung Kommersant wies am Mittwoch mit Stolz darauf hin, daß es sich um eine Antiterroraktion von bisher weltweit unbekanntem Ausmaß handelt. „Der richtige Sturm wird auf den militärischen Sturm hin erst losgehen – aber statt eines Sieges werden wir Blut und Tränen ernten“, titelt dagegen die Komsomolskaja Prawda.
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