: In zerfurchten Gesichtern steht Einsamkeit
Der Russe Wladimir Lumpow gewinnt das Eisspeedwayrennen in Hohenschönhausen und darf sich Master of Spikes nennen – der König der Tollkühnen, die in extremer Schieflage mit 100 Sachen über das Eis kratzen
Sie geben die starken Männer. Bevor das erste Rennen für die Anwärter auf den Titel des „Master of Spikes“ gestartet wird, werden die Piloten der Eisspeedwayszene auf der Ladefläche eines Lkw-Anhängers einmal rund um das Oval der Hohenschönhauser Eisschnelllaufbahn gezogen. Alle Piloten geben sich Mühe, möglichst verwegen dreinzuschauen. Den Russen im Fahrerfeld gelingt dies am besten. In ihren zerfurchten Gesichtern steht die Geschichte von einsamen Männern, die in den Weiten Sibiriens oder auf den Höhen das Urals auf zugefrorenen Gewässern ihre Trainingsrunden ziehen.
Einer dieser Piloten ist Wjatscheslav Nikulin, der schon seit ein paar Jahren in Deutschland lebt, im Sommer als Trucker Lkws über die Autobahnen kutschiert, um sich seine Winterleidenschaft leisten zu können.
Auch Franz Zorn bemüht sich auf der Einführungsrunde, den harten Mann zu geben. Im Gegensatz zu den meisten anderen im Feld ist er Vollprofi. Durchgestylt vom mahagonifarben gefärbten Scheitel bis zu den metallbewährten Sohlen wirkt der aktuelle Vizeweltmeister neben den verhauenen Gesichtern der Russen wie ein Fremdkörper.
Nach der Vorstellung der Piloten, beginnen die Männer Lärm zu machen im weiten Rund der Eisschnelllaufhalle. Die Luft beginnt nach Benzin zu riechen, und die etwa drei Zentimeter langen Spikes der Eisspeedway-Maschinen beginnen tiefe Furchen in das frisch gemachte Eis zu graben.
Ungefähr 200 Dornen im Hinterrad und 120 vorne machen eine Eisspeedwaymaschine zum T-Rex unter den Motorrädern. In extremer Schieflage kratzen die tollkühnen Männer mit etwa 100 km/h über das rutschige Oval, was die Sache nicht gerade ungefährlicher macht. Bei der Veranstaltung im vergangenen Jahr brach sich der Tscheche Stanislav Dyk nach einem Ausrutscher einen Brustwirbel und sitzt seitdem im Rollstuhl. In beinahe jeder Rennpause wurde auf sein Schicksal hingewiesen, eine Versteigerung fand zu seinen Gunsten statt, Spenden wurden gesammelt.
Als Phantom geisterte der verunglückte Pilot durch die Halle: Wahnsinn Motorsport. Die Anekdoten aus den Fahrerleben, die der Hallensprecher immer wieder einstreute, waren Geschichten von Spinnern, die für ein paar Minuten Nervenkitzel ihr Leben aufs Spiel setzen. Vom zweimaligen Master Wladimir Fadew wurde berichtet, dass er sich bei einen Salto mit dem Jetski, einem Wassermotorrad, den Rücken so stark geprellt habe, dass er sich eine Woche nicht mehr haben bewegen können. Lokalmatador Günter Bauer habe sich gerade erst von schweren Verletzungen erholt, die er bei einen 24-Stunden-Rennen für Mofas im August erlitten habe. Solche Geschichten. Es gibt mehr davon.
Begnügen wir uns hier mit der sportlichen. 16 der weltbesten Fahrer waren zu den Masters nach Berlin eingeladen worden. Und was sich schon bei der Vorstellung der Piloten angedeutet hatte, setzte sich bei den Rennen und ihrer Kommentierung durch den Hallensprecher fort. Es wurde ein Wettkampf Ost gegen West inszeniert, bei dem sich am ersten Tag mit dem jungen Finnen Antti Aakko (22) der jüngste Fahrer im Feld als Tagessieger durchsetzte. Am Sonntag konnte sich dann wieder keiner der sechs Russen im Feld in den Qualifikationsrennen durchsetzen. Der Schwede Stefan Svensson durfte als Tagessieger neben Aakko im Finale starten, für das die Jury außerdem als einzigen Russen Bahnrekordhalter Wladimir Lumpow sowie Lokalmatador Günter Bauer setzte.
Mit einem souveränen Lauf holte sich schließlich doch ein Mann aus dem Osten, Lumpow nämlich, den Titel des Master of Spikes 2001. Im Endlauf landete er einen Start-Ziel-Sieg vor Aako, Svensson und dem mehrfachen deutschen Meister Bauer (Schleching) und rettete damit die russische Siegesserie.
Dafür kassierte Lumpow eine Siegprämie von 5.000 Mark. Die Veranstalter waren mit der Resonanz am Wochenende sehr zufrieden: Am Samstag kamen 4.500 Besucher, am Sonntag war die Eishalle mit 5.000 Fans ausverkauft. ANDREAS RÜTTENAUER
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen