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In medias res

Ein ostdeutscher Amtsarzt erzählt  ■ Von Gabriele Goettle

Als ich ihn telefonisch um einen Gesprächstermin bat, schlug er mir, ohne Umstände zu machen, sofort ein Treffen am nächsten Morgen um acht Uhr vor.

Nun stehe ich vor der weißlackierten Tür mit der Aufschrift „AMTSARZT“ und habe bereits dreimal geklopft. Gerade als ich mich entschließe, ins Café an der Ecke zu gehen, wird geöffnet. Eine ältere Frau in weißem Kittel bittet mich einzutreten und sagt entschuldigend: „Wenn der Kopierer an ist, hört man immer nichts. Der Herr Doktor erwartet Sie schon, gehn Sie nur rein.“

Im Gegensatz zum Vorzimmer, in dem alles eierschalenfarben ist, passend zu Schreibcomputer, Telefonanlage, Kopierer und Fax, herrschen im Raum des Amtsarztes die dunkleren Farbtöne altmodischer Möblierung vor. Neben dem Bücherschrank steht die unverwüstliche DDR-Einheitssitzgruppe mit Blumenväschen auf dem Tisch. Darüber an der Wand hängt, als einzig sichtbares Zeichen veränderter Verhältnisse, ein großformatiger Kunstdruckkalender; Werbepräsent eines Pharmakonzerns. Die vergilbte Portraitfotografie von Albert Schweitzer allerdings wirkt auch nicht so recht dazugehörig und wie zufällig übriggeblieben aus den frühen fünfziger Jahren. Hinter dem mit Papieren und Akten überladenen Schreibtisch sitzt ein rundlicher Mann Ende Fünfzig. Er hat schütteres Haar, trägt ein hellblaues Sommerhemd und blättert in seinen Unterlagen.

„Sie sind also der Amtsarzt“, sage ich. Er steht auf, schaut mich über den Rand seiner Brille hinweg an, reicht mir die Hand und erwidert lächelnd: „Ich bin der Amtsarzt.“ Dann bittet er mich, Platz zu nehmen. Die Helferin im weißen Kittel bringt Kaffee. Er blättert weiter und erklärt: „Ich wollte Ihnen eigentlich was raussuchen, finde es aber momentan nicht. Sie müssen wissen, daß alle Fragen des öffentlichen Gesundheitswesens in die Länderkompetenz fallen, da gibts kein einheitliches Bundesrecht, bzw. es gibt schon eins, das ist von 1934/35 ...“ (er hustet) „Und das ist noch rechtskräftig?“ frage ich. Er hebt einen Stapel Akten hoch und läßt ihn wieder sinken und antwortet: „Ja, ja, es gibt nur einige Länder der Bundesrepublik, in denen es nicht gilt, z.B. in Sachsen, Berlin, Niedersachsen, Bayern, sonst arbeiten sie alle nach diesen hochveralteten Gesetzen ... Ich hatte es doch hier hingelegt gehabt, nun find ichs nicht ... das ist nämlich interessant, wie unterschiedlich das von Land zu Land geregelt ist. Was für Berlin rechtens ist, kann in Schleswig-Holstein ein Gesetzesbruch sein. Interessant ist auch der geschichtliche Aspekt. Das öffentliche Gesundheitswesen reicht ja bis ins 15. Jahrhundert zurück bei uns, bis zum Erlaß von Kaiser Sigismund, der auf dem Reichstag dafür den Grundstein gelegt hat, mit der Seuchenverordnung fürs Trinkwasser und die Abfallbeseitigung und auch mit der Armenfürsorge. Im Kern ist das alles ja bis heute erhalten geblieben. Das ist eine hübsche Geschichte ... aber ich find sie nicht, da hab ich nämlich einen Vorruheständler, einen Verwaltungsfachmann, der langweilt sich zu Hause und hat mir das alles zusammengestellt, so eine geschichtsvergleichende und rechtsvergleichende Darstellung, wunderbar. Am Anfang mußte ich ja ständig in den einzelnen Ländergesetzen nachblättern ...“ Er gibt nun die Suche auf, schenkt uns Kaffee ein und läßt sich mir gegenüber auf einem Sessel nieder. „Und Sie, was haben Sie vor der Wende gemacht, waren Sie da auch schon Amtsarzt?“ frage ich. Er blickt mich wieder über die Brille hinweg an und sagt zögernd: „Nein, war ich nicht ... das ist eine etwas komplizierte Geschichte mit mir ...“ Ich ermuntere ihn: „Erzählen Sie mir die Geschichte.“ Er protestiert ein wenig: „Ach, das interessiert doch niemanden ...“ „Wir werden sehen“, sage ich, und er beginnt:

„Die Sache war so, an sich wollte ich Theologe werden. Bin Jahrgang 35. Nach dem Krieg hab ich erst mal die Tischlerei gelernt, denn wir waren vier Kinder zu Hause, meine Mutter war krank, und der Vater kam aus dem Krieg nicht zurück. Also hab ich diese Lehre gemacht, von '50 bis '53, und dann bis '58 als Tischler gearbeitet. Zwischendurch hab ich auf der Abendschule in vier Halbjahreskursen das Abitur nachgemacht. Und als ich dann soweit war, hab ich doch nicht Theologie studiert, sondern Medizin. Da war ich dreiundzwanzig Jahre alt. Bis 1964 hab ich studiert. Damals wurden ja viele Ärzte gebraucht, es herrschte akuter Ärztemangel bei uns, ganze Massen sind ja in die Bundesrepublik rübergegangen ... Mittlerweile hatte ich Kind und Frau und wollte Hautarzt werden, bekam aber keine Wohnung. Da wurde damals die Stelle des Hygienearztes frei. Das wollte von den Kollegen keiner machen, also habe ich mich gemeldet. Ich machte eine Facharztausbildung als Hygienearzt, das war Lebensmittelüberwachung, Seuchenhygiene und Kommunalhygiene. So wurde ich Kreishygienearzt. Hier in dieser Stadt ... und dann kam es zum politischen Eklat mit mir, 1977.

Ich hatte mich um Schutzimpfung, Seuchenbekämpfung, Wasser- und Abwasserhygiene zu kümmern, es gehörte auch noch ein großer Teil von dem dazu, was die Umweltschutzämter machen. Ich hatte einiges erreicht in der kommunalen Hygiene, mit Fernwärme, Abwasser usw., aber als Hygieniker ruft man immer leicht Ärger hervor, weil man ja auch die Durchsetzung der Verbesserung betreiben muß. Ich biß auf Granit. Wissen Sie, wenn man hinterm Schreibtisch sitzt, juristische Fragen erörtert, Sachverhalte begutachtet und man weiß, alles, was wirklich wichtig wäre, geht nicht, scheitert an der Ignoranz der Herren dort oben, dann verliert man die Lust. Dafür habe ich mich nicht abgemüht. Ich war die ständigen Auseinandersetzungen mit dem Ersten Sekretär leid. Da hab ich mich abgesetzt, bin Betriebsarzt geworden und habe die Qualifikation nachgemacht.

Im Karl-Marx-Werk, das war ein Metall-Leichtbau-Kombinat, da habe ich wieder Freude an meinem Beruf bekommen. Dort wollte ich bleiben und als Betriebsarzt sterben. Ich war nicht nur Arbeitsmediziner, ich habe die Leute auch behandelt ... ach, das war schön, da gabs hervorragende Arbeitsbedingungen. Sofort hab ich ne Wohnung gekriegt, für mich und die zwei Kinder, die Frau blieb ja hier, aber diesen Teil der Geschichte möchte ich gerne aussparen, jedenfalls war das Berufliche nicht weiter problematisch. Ich hab dann als Arbeitsmediziner und Praktiker gewirkt bis 1989. Dann brach ja die ganze Geschichte zusammen, und ringsum die ganzen Großbetriebe hat man ja mit der Zeit dann auch liquidiert. Da war auch kein Wohngebiet, in dem ich hätte eine Praxis aufmachen können, mal abgesehen vom Geld, das ich sowieso nicht hatte. Wo hätte ich meine Patienten mit hinnehmen sollen, und was heißt schon meine? Also bin ich nach Karl- Marx-Stadt und hab mich dort erst mal um ein öffentliches Amt beworben, weil ich ja ausgebildeter Hygieniker war. Der Erfolg, man sagte mir am Ende ab, die eigenen Leute mußten natürlich untergebracht werden.

Ich hab dann hierher geschrieben, und plötzlich sagt man mir: „Ja, du kannst bei uns anfangen.“ Weshalb ausgerechnet ich, das weiß ich nicht, es soll viele Bewerber gegeben haben, auch jüngere.

Und da habe ich dann hier angefangen, im Dezember 1990, als Amtsarzt, und hatte mit ganz neuen Strukturen zu tun. Ständig gibts was Neues. Die Lebensmittelüberwachung gehört nicht mehr zu mir, aber die Abfall- und Deponiefragen sind geblieben, hygienische Bewachung bestimmter Objekte auch. Na, und Gutachten spielen ja jetzt eine Riesenrolle, alles wird amtlich begutachtet, Leute, die Lastwagen fahren wollen, Taxi, Leute, die Kinder adoptieren wollen usw., und was noch dazukam, ist die öffentliche Psychiatrie. Ich habe gleich einen erfahrenen Psychiater an meine Seite genommen, obwohl ich ja damals sechs Monate lang Psychiatrie gemacht hatte in der Zusatzausbildung. Aber ein Fachmann ist besser, bei der vielen Gutachterarbeit, die hier geleistet werden muß.“

Ich nutze die Lücke und frage: „Was halten Sie eigentlich heute vom Gesundheitssystem der DDR?“ Er wiegt den Kopf und denkt einen Moment nach:

„Na, ich wills mal so sagen, es war nicht das Schlechteste. Es hat zweifellos seine Schwachstellen gehabt, die darf man nicht übersehen oder beschwichtigen. Ich bin mal von einer Ärztezeitung gefragt worden, was mir so als Betriebsarzt nicht gefallen hat ... also, das war so: Ich konnte die Leute zwar krankschreiben, damit hatte es sich. Ich hatte z.B. keinen Zugang zur Gemeindeschwester, wenn es den Leuten mal wirklich schlecht ging. Es war oft so, daß Betriebsangehörige, die 20 bis 30 Jahre schon da waren, regelmäßig als Patienten auftauchten. Man hatte ein richtiges Arzt-Patienten-Verhältnis. Aber wenn da mal einer Krebs bekam und damit ausschied, und der wollte von seinem vertrauten Arzt weiterbehandelt werden, dann ging das nicht. Weiterführende menschliche Verbindungen berücksichtigte die Bürokratie nicht. Wir haben uns natürlich weiter um die Leute gekümmert. Auf eigene Kappe saß man bei denen Feierabend zu Hause, oder am Bett im Krankenhaus. Man bringt es ja nicht übers Herz, den Betreffenden einfach so sitzenzulassen in seiner Verzweiflung, nur weil die Struktur es so vorschreibt und die Arbeitszeitplanung dafür keine Sekunde zubilligt. Auch die andern Kollegen haben das so gemacht, wir alle hatten unsere alten Patienten, zu denen man, bis zum Augenzudrücken sozusagen, nach Hause gegangen ist. Solche Sachen waren eben nicht eingeplant, bzw. anders geplant, na und dann eben überhaupt immer der Ärger, wenn man eigene Gedanken verwirklichen wollte. Na, und was nun das neue System betrifft, es ist natürlich ganz anderen Prinzipien verpflichtet ... und letztlich wars ja unser politischer Wille, der da in den Einigungsvertrag eingegangen ist und der uns dazu gebracht hat, die alten Strukturen abzuschaffen, dazu gehört eben auch das Gesundheitswesen. Es stand nie zur Debatte, welches das bessere ist, was man voneinander vielleicht übernehmen könnte, was sich bewähren würde im sozialen Leben.

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Daß das jetzt teuer wird, was man uns vorschreibt, war vorauszusehen. Aber ich sage Ihnen eins, Sie und vielleicht sogar auch ich werden es noch erleben, daß die EG aus rein ökonomischen Gründen die Zahl der Ärzte limitieren und die Leistungen konzentrieren wird. Daß Ärzte ihre Leistungen wie Unternehmer anbieten, führt ja zwangsläufig zu Mißverständnissen über das, was Gesundheitsfürsorge zu leisten hat. Das System ist nicht nur teuer, es ist auch ineffizient, trotz großer Fortschritte in der medizinischen Wissenschaft und Technik. Aber nebenbei bemerkt, das war auch in unseren Polikliniken so, daß man zu wenig Zeit hatte für den Patienten, trotz oder wegen der vielen hilfreichen Apparaturen, hauptsächlich aber, weil es immer an Ärzten mangelte.

Und sehn Sie mal, nochwas macht mir Kopfzerbrechen: Zahlen, aus denen man sich wirklich ein Bild machen könnte, gibt es heute so wenig wie früher. Selbstmordrate beispielsweise. Die wurde früher unter Verschluß gehalten, und heute läßt sichs auch nur über den Daumen peilen. Später stellt man dann fest, es gab große wissenschaftliche Arbeiten, die nicht veröffentlicht wurden. Wir haben z.B. heute den Eindruck, daß nervliche Störungen mit Krankheitscharakter stark zunehmen. Die Patienten kommen zu uns mit ganz spezifischen Symptomen, und wenn sie dann ihr Herz ausschütten, ist es immer das gleiche: Arbeitslosigkeit, keine Zukunftsvorstellungen, persönliche Probleme, Angst ... in der Regel haben sie ganz tiefe Depressionen ... und so ist es ja mehr oder weniger bei uns in jeder Stadt. Aber auch hier können wir keinerlei verbindliche Aussagen machen. Dabei gehören solche Sachen doch aufgeklärt, wie die seelischen Störungen durch die politische Gesellschaft und die materiellen Veränderungen sich auswirken. Aber will man das? Im Grunde ist es ganz ähnlich wie früher, durch die Kassenabrechnung. Die Kassen rücken ihre Diagnosezahlen natürlich nicht raus, auch nicht an die Ärzte, das ist in ganz Deutschland so. Da können Sie nur anhand von Stichprobenuntersuchungen hochrechnen, aber das ist ja nicht beweiskräftig. Heute ist da jeder übervorsichtig, weil man ja aus Datenschutzgründen belangt werden kann.“

G.: „Gabs eigentlich in der DDR eine Art Krebsatlas?“

A.: „Und ob! Das Krebsregister war eins der vorzüglichsten der Welt. Jeder Krebskranke ist da aufgeführt worden. Heute brauchen Sie ja die Zustimmung des Kranken. So ein Register, wenn es richtig angewandt würde, könnte eine Menge Nutzen stiften. Man wüßte, welche Arzneimittel gut wirken, aber auch Art und Anzahl der berufsbedingten Krebserkrankungen. Und die, muß ich sagen, wurden früher zwar ganz genau verzeichnet, dann aber unter Verschluß gehalten. Ich sage nur Uranbergbau. Wie ich höre, hat der Arbeiter im Westen auch ziemliche Probleme, seine Berufskrankheit als solche anerkannt zu bekommen?!

Um nochmal auf die Depressionen zurückzukommen. Ich bin damit nicht nur hier im Amt konfrontiert, sondern auch im Bekanntenkreis. Gestern abend rief mich eine Kollegin an, Zahnärztin, und sie sagt: ,Mir gehts einfach dreckig.‘ Die ist, genau wie ich, auch schon zu alt, um sich selbständig zu machen. Sie war Betriebsärztin bei der Reichsbahn. Immer guter Dinge, jetzt ist ihr Zustand erschütternd. Sie sagte: ,Ich bin promovierte Zahnärztin, über 50 jetzt, und ich beneide den Straßenbahnschaffner um seine Arbeit, um seinen Kontakt zu den Menschen, ich beobachte ihn sehnsüchtig, wenn ich mal in die Stadt fahre. Ich hab meine sozialen Zusammenhänge und Kontakte verloren, kümmere mich nur noch um Haushaltskram. Ich komme mir vor wie zu Lebzeiten aufgebahrt.‘ Das muß man sich mal vorstellen. Diese Frau hat ihr Leben lang anständig ihre Arbeit gemacht, war beliebt, nun steht sie draußen. Da sind dann die finanziellen Vorteile auch nicht mehr interessant. Und ich denke mir oft, wenn ich die Patienten hier sehe, die eher wenig verdient haben früher und heute ganz wenig vom Arbeits- oder Sozialamt bekommen, wie halten die das aus? Die Mieten steigen, die Preise steigen, die Ansprüche der Kinder und Enkel steigen und die Angst steigt, vor all diesen unübersichtlichen, unkalkulierbaren Existenzbedingungen. Das beunruhigt und quält die Bürger, läßt sie Tag und Nacht nicht zu ihrer Ruhe finden. Und dieser ganze Gram, dieser Streß, wie es jetzt heißt, der nicht abgebaut werden kann, hat Folgen ... Der Magen, Krämpfe, Geschwüre, der Kreislauf, das Herz und – nach gesteigertem Alkoholkonsum – die Leber. Man weiß auch nicht, wo man zu raten soll, es gibt eine allgemeine Verdrossenheit und den Verlust jeglichen Vertrauens.

Mit der Kollegin, der Zahnärztin, habe ich auch über dieses Komitee gesprochen, aber da stört eben irgendwie die PDS. Allerdings, hier bei uns halten sie sich zurück, da gibts insofern auch noch kein Bürgerkomitee. Ich hab hier eine Mitarbeiterin, die ist PDS- Abgeordnete, die sagt, sie ist Abgeordnete und kann sich nicht zerreißen. Mein Sohn, der ist in Chemnitz, mit dem hab ich telefoniert neulich, der sagt, sie haben ein Komitee und die versuchen, alle Gruppen, Unzufriedenheiten und Ungerechtigkeiten irgendwie zu koordinieren und aufzulisten.“

G.: „Und Sie?“

A.: „Ich? Na, die Dinge müssen artikuliert werden, unbedingt. Die Zahnärztin überlegt auch schon, sich politisch in dieser Richtung zu betätigen. Ein Bedenken hat sie aber, nämlich daß, wenn man so eine Opposition aufbaut, die Einheit wieder aufs Spiel gesetzt werden könnte. Bei uns herrscht ja immer der leise Zweifel darüber, ob das, was wir jetzt als Gerechtigkeit für uns einklagen, nicht auf sozialistischem Gedankengut von früher fußt. Woraus speist sich denn das Gerechtigkeitsempfinden? Ist es das Christliche, das Humanistische, das uns den Maßstab gibt? Zweifellos! Aber wie und wo legen wir ihn an in der neuen Wirtschafts- und Sozialordnung? Das ist das Problem, und man will ja die geistige Mauer zwischen Ost- und Westdeutschen nicht auch noch höher machen, als sie schon ist.

Ach wissen Sie, früher war das einfacher, der Westen schien weit weg zu sein, in mythischer Ferne. Ich hatte damals die Gelegenheit, einmal rüberzufahren zu meiner Schwester ins Rheinland, sie war krebskrank. Ich war furchtbar aufgeregt. Und wie es so ist, fragte sie mich, was ich denn so anschaun möchte im Westen. Da hab ich gesagt, daß ich eigentlich die ganzen Jahre nur den einen großen Wunsch hatte, noch einmal in meinem Leben den Rhein zu sehen. Meine Schwester hat sich halb totgelacht, sie konnte das verstehen.

Aber für uns Deutsche ist das ja der poetischste Strom überhaupt. Auf seinem Weg vom Gletscher zum Meer fließt er durch die reichsten Länder Europas, an seinen Ufern ist europäische Geistesgeschichte entstanden ...“

G.: „Und die chemische Industrie ...“

A.: „... na jedenfalls haben ihn alle Großen verehrt, mit Liedern und Sagen, Gedichten, Kompositionen, Gemälden. Für mich ist dieser Fluß wie ein Symbol des menschlichen Schicksals. Eine politische und kulturelle Lebenslinie.

Dann, als zweites, wollte ich unbedingt noch nach Aachen, an die Stelle, wo zweiunddreißig Kaiser und Könige gekrönt worden sind, unsere deutschen Kaiser und Könige ...“ (Dem Amtsarzt treten Tränen in die Augen. Sie fließen ihm schnell über die Wangen, tropfen vom Kinn aufs Hemd. Ohne sie wegzuwischen, spricht er weiter.) „... wo Karl der Große Hof gehalten hat und beigesetzt wurde. Da möcht ich einmal in meinem Leben stehen, an der Stelle, wo der Sessel ist ... denn wer weiß, dachte ich, braucht nur meine Schwester an ihrem Krebs zu sterben, dann hab ich nie wieder die Möglichkeit, nach Westdeutschland zu kommen...“ (Er schweigt und blickt auf seine Handflächen hinunter, während ihm weiterhin Tränen über die Wangen laufen. Dann holt er ein großes Taschentuch hervor und wischt sich zuerst die Augen trocken, bevor er akribisch die Brillengläser poliert.)

„Ich wollte Ihnen nur sagen, die Einheit, auch im seelischen Begehren, war nicht mehr länger rauszuschieben. Diese Sehnsucht blieb aktiv, all die Jahre. Und das war für uns sehr hart, zu wissen, daß man die meisten Grenzen sein Lebtag nicht wird überschreiten können. Das hat die Lebenseinstellung ganz entscheidend geprägt. Deshalb ist ja auch jetzt, wo alle Grenzen offen stehen, die Situation so einschneidend für uns ... aber ich rede und rede, dabei muß ich gleich weg, zu einer Pressekonferenz der Aids-Beratungsstelle, kommen Sie mit?“

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