In jeder Familie ein Verbrecher?

■ Interview mit dem Historiker Manfred Messerschmid über die Ausstellung „Verbrechen der Wehrmacht“

Manfred Messerschmid (70) war leitender Historiker am Militärgeschichtlichen Forschungsamt. Mit „Die Wehrmachtsjustiz im Dienste des Nationalsozialismus“hat er vor über zwanzig Jahren ein Standardwerk vorgelegt. Er ist in vielen Funktionen an der öffentlichen Diskussion um die Verbrechen des Nationalsozialismus beteiligt.

taz: Was ist das Neue an der Ausstellung „Verbrechen der Wehrmacht?“

Manfred Messerschmid: Neu ist, daß längst bekannte Fakten zum ersten Mal breit und öffentlich diskutiert werden. Ende der 60er, Anfang der 70er waren die wichtigen Werke über das Thema bereits geschrieben. Neu ist auch für viele Menschen, daß die Fakten teilweise immer noch unter dem Teppich gehalten werden. So empfiehlt der bayrische Kultusminister den Schulen, die Ausstellung nicht zu besuchen.

Warum wird die Diskussion so emotional geführt?

Es gibt in fast jeder Familie Wehrmachtsangehörige. Niemand kann sich damit anfreunden, daß unter Umständen der Vater, Sohn oder Onkel ein Mörder gewesen ist.

taz:Was ist denn ein anständiger Soldat?

Ein einzelner Soldat hat durchaus im Krieg Verhaltensmöglichkeiten zwischen menschenverachtend und anständig. Es kommt darauf an, wie er sich in extremen Situationen entscheidet, wie er sich der Zivilbevölkerung, den Gefangenen gegenüber verhält. Diese Spielräume gibt es doch auch im Zivilleben.

Was ist Soldatenehre?

Den Ehrenkodex muß man historisch sehen. Lange durften nur Adlige Offiziere werden. Der einfache Soldat hatte keine Ehre.

Kann man die Wehrmacht aus dem NS-System herauslösen?

Nein. Die Wehrmacht hat sich selbst als tragende Säule des NS-Staates bezeichnet.

Demnach ist Desertion aus dieser Armee eine Heldentat?

Ein Deserteur in der Nazizeit war kein Verräter. Objektiv hat er das Richtige getan. Nun gibt es diejenigen, die Deserteure kritisch sehen. Ich selbst bin 1944 Soldat geworden, ich glaube, es gehörte mehr Mut dazu, zu desertieren, als an der Front zu bleiben. Wo sollte man denn auch hin im nazibesetzten Europa? Vom Schupo zu Hause und von der Gestapo wurden diese Leute gejagt. Die meisten Deserteure sind gefangen und erschossen worden.

Hat es bei der Gründung der Bundeswehr ein Problembewußtsein in Bezug auf die Verbrechen der Wehrmacht gegeben?

Es hat dieses Bewußtsein gegeben. Nur es hatte wenig Konsequenzen. Es gab den Personalgutachterausschuß, da wurden Offiziere vom Oberst aufwärts an gecheckt. In diesem Ausschuß saßen Vertreter der Parteien, der Kirchen, der Gewerkschaften. Eine ganze Reihe von Bewerbern für die Bundeswehr sind als bekannte Nazis vor diesem Gremium durchgefallen. Aber es sind eine ganze Menge durchgekommen, die man genausogut hätte rauswerfen und vor Gericht stellen können.

Warum hat man es nicht getan?

Die Herren haben sich gegenseitig gedeckt. Wer ist denn in der Adenauerzeit beispielsweise als belasteter Jurist oder Arzt vor Gericht gekommen? Offiziere, die von internationalen Gerichten zu zehn oder 20 Jahren Gefängnis verurteilt worden waren, wurden im Kalten Krieg schnell wieder entlassen. Teilweise waren diese Prozesse eine Farce. Da sagt ein General, den Befehl habe ich zwar unterschrieben, aber ich habe ihn in der schwierigen Situation gar nicht gegeben. Und der zuständige Stabsoffizier schiebt zurück, der Befehl war nur ein Entwurf, verantwortlich sei der Kommandant.

Wieviel Offiziere sind in die Bundeswehr übernommen worden?

Über 10.000.

Deren Grundhaltung hat sich nicht von heute auf morgen geändert?

Sicher nicht. Für den Aufbau der Bundeswehr hat es verschiedene Beratergruppen gegeben. 1950 war Hermann Foertsch zum Beispiel Leiter der Gruppe „Inneres Gefüge“, heute heißt das „innere Führung“. Dieser Mann war als General unter den Nazis zuständig für politische Indoktrination der Wehrmacht. Während des Krieges war er auf dem Balkan Chef des Stabes der 12. Armee, zunächst in Griechenland, dann beim Oberbefehlshaber Süd-Ost. Da sind fürchterliche Befehle gegen Partisanen und gegen die Zivilbevölkerung erlassen worden. Aber Foertsch war eben nicht verantwortlicher Kommandant. Alle Generäle in den Beratergremien Adenauers kannten natürlich Foertsch als überzeugt handelnden Nazi. Ausgerechnet dieser Mann entwirft das Bild des neuen Offiziers für die Bundeswehr. Verrückt!

Nicht nur Generäle haben geschwiegen. In den 60er Jahren haben viele Kinder ihren Eltern diesen Vorwurf gemacht.

Mit der Diskussion um diese Ausstellung wird dieser Vorwurf öffentlich. Dazu gibt es ein Forschungsprojekt. Viele ältere Menschen konnten mit ihren Kindern nicht reden. Jetzt erst kommt es mit den Enkeln zum Gespräch. Insgesamt kann man sagen, daß vor dreißig, vierzig Jahren Nationalsozialismus weder in der Familie noch an den Schulen noch an den Universitäten ein Thema war. Denken Sie nur daran, wie viele Professoren in der Bundesrepublik vorher selbst engagierte Nazis waren. So feine Herren wie der Historiker Schiede, der der SS Entwürfe zur „Entjudung“Polens vorgelegt hat, waren nach dem Krieg Vorstand des Historikerverbandes. Als solcher schreibt er 1950 in den Historischen Nachrichten, vieles, was unter den Nazis als Wissenschaftslektüre publiziert worden sei, könne bedenkenlos wieder geschrieben werden.

Wie kann man jetzt das öffentliche Interesse produktiv nutzen?

Unbedingt müssen die Ergebnisse der Forschung jetzt in die Schulbücher kommen und im Unterricht mehr behandelt werden. Für die Forschung gibt es Aufgabenfelder zum Beispiel in der Justiz oder der Medizin. Hier hat die Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte erst spät angefangen. In den Universitäten wartet noch eine Menge Material über Verstrickungen der Professoren mit den Nazis. Innerhalb der Lokal- oder Regionalgeschichte gibt es eine Menge aufzuarbeiten, schließlich spielte sich hier das Alltagsleben unter dem Faschismus ab. Als der Bundespräsident zu dem Wettbewerb „Schüler forschen“aufrief, sind viele SchülerInnen in ihre Stadtarchive geggangen, aber die Archivare haben ihnen nichts rausgerückt. Man hätte die kriminelle Vergangenheit lebender, bislang unbescholtener BürgerInnen aufdecken können.

Fragen: Thomas Schumacher