■ In dieser Woche wird der Euro eingeführt. Doch der EU fehlt die Zustimmung ihrer Bürger. Aber Europa ohne Europäer wird mißlingen: Countdown zur Wirklichkeit
Am Vorabend der deutschen Ratspräsidentschaft, ein halbes Jahr vor den nächsten Europawahlen und mit Beginn der Beitrittsverhandlungen mit sechs Ländern schwillt der Chor aus Stimmen an, die sich zu Zustand und Zukunft der Europäischen Union äußern. Ein Brausen geht durchs Land: Es wird gefordert und geschimpft, gedroht und gemahnt, daß es eine Lust ist. Der Stoiber und der Kanzler, Spiegel und Zeit, alle hauen in die Tasten: Europa ist in.
Bei aller Freude über die öffentliche Diskussion fällt auf: Es reden die Politiker, die europäischen Bürger schweigen. Sie schweigen so unüberhörbar, daß die meisten Politiker glauben, es gäbe sie gar nicht. Das ist bequem, denn wo es keine Bürger gibt, gibt es auch keine politischen Kontrolleure. Deshalb läßt sich nirgendwo so fröhlich und unbeschwert regieren wie auf der europäischen Ebene. Und die Regierungen der Mitgliedstaaten der EU werden alles tun, damit das auch in Zukunft möglichst lange so bleibt.
Ihnen kann es egal sein, wenn in der Europäischen Union die Demokratie unter die Räder kommt. Die Minister und Regierungschefs der Mitgliedstaaten fühlen sich nach wie vor durch nationale Wahlen ausreichend legitimiert. Zusätzliche Kontrollen sind ihnen lästig. Politik hinter verschlossenen Türen und zu Hause immer die böse EU-Kommission als Sündenbock: In Brüssel können sich Politiker mal so richtig von der eigenen Verantwortung erholen.
Die vierte Gewalt fällt in Europa weitgehend aus. Die Medien sind nach wie vor zersplittert in ihre Heimatmärkte, allenfalls ihr Kapital ist europäisch verflochten. Korruptionsskandale, wie sie in letzter Zeit die Kommission erschüttern, hätten wegen der Medienreaktionen in allen Mitgliedsländern schon personelle Konsequenzen gehabt.
Die Union krankt an ihren Gründungsbedingungen. Die Zusammenarbeit von nationalen Regierungen ohne echte demokratische Kontrolle erschien zu Beginn der 50er Jahre der einzig gangbare Weg für die europäische Einbindung Deutschlands, eine Aussöhnung der „Erbfeinde“ Deutschland und Frankreich und eine dynamische wirtschaftliche Entwicklung, die sich den Binnenmarkt der USA zum Vorbild nahm.
Zwar wurde nach und nach aus dem beratenden Parlamentsausschuß der nationalen Parlamente ein direkt gewähltes Europaparlament mit verbrieften Kompetenzen, aber noch immer werden diesem Parlament die elementarsten Rechte verweigert. Das EP stimmt nicht über den Gesamthaushalt der Union ab, es wählt keine Regierung aus seinen Reihen, es kann keine Gesetzesinitiativen einbringen, es setzt sich nicht proportional zur Bevölkerung zusammen und kennt bis heute weder ein einheitliches Wahlrecht noch europäische Wahlkreise.
Das Fehlen eines echten demokratischen Unterbaus verhindert die Identifikation der Europäer mit der Union. Ohne wirkliche Mitbestimmungsrechte fühlen sich die Bürger der EU gegenüber hilflos und ohnmächtig. Ihr vornehmstes demokratisches Recht – eine Regierung zu wählen bzw. abzuwählen – können sie nicht ausüben. Weil der Souverän machtlos ist, haben sich absurde Politiken herausgebildet, die kein nationales Parlament vor seinen Bürgern rechtfertigen, geschweige denn durchsetzen könnte.
Diese politischen Sünden und Versäumnisse müssen bald bereinigt werden, sonst kann die Osterweiterung nicht durchgeführt werden. Sie setzt die gesamte Neuordnung der inneren Strukturen der EU voraus und kann nur mit einer tiefgreifenden Reform der Agrar- und Strukturpolitik gelingen. Schließt man alle Nachfolgestaaten Jugoslawiens sowie die Türkei ein, könnten achtzehn Staaten beitreten.
Am Ende dieses gewaltigen Transformationsprozesses wird die EU entweder eine selbstbewußte Großmacht sein, die fähig und willens ist, aktiv die Geschicke der Welt mitzugestalten, oder sie wird – an den Aufgaben gescheitert, innerlich zerstritten und unfähig zur konsequenten Abgabe nationaler Souveränität – zu einer riesigen Zollunion mit gemeinsamer Währung degenerieren, in der sich jeder auf Kosten der anderen möglichst viele Vorteile verschaffen will. Der Zusammenbruch wäre vorprogrammiert.
Die EU wird ohne eine emotionale Zustimmung der Europäer nicht bestehen. Wer die EU erweitern und vertiefen will, muß die Menschen für Europa gewinnen. Viele erwarten, daß der Euro ein europäisches Wir-Gefühl nach sich ziehen wird. Das wird aber allein nicht genügen. Nur bei einer echten Demokratisierung der Union werden sich die Menschen für die EU engagieren.
Für dieses Ziel muß sich zuallererst das Europaparlament einsetzen. Bisher kämpft es zu wenig und zu leise für seine Rechte. Spektakuläre Aktionen des EP sind mir in dreißig Jahren politischer Aufmerksamkeit nicht in Erinnerung geblieben. Die Forderungen des Parlaments sind nur einer Minderheit bekannt. Ein medienwirksames Go-in beim nächsten Europäischen Gipfel, ein symbolischer Hungerstreik durch die Spitzen der europäischen Fraktionen, eine friedliche Besetzung von Räumen der Europäischen Kommission, und schon würden die Medien europaweit über den heroischen Kampf des EP für die Rechte der Bürger berichten.
Wenn der Kampf um die Bürgerrechte auf europäischer Ebene gelingen soll, braucht das Parlament Verbündete. Das können nur Menschen sein, die sich bewußt als Europäer begreifen, die von sich sagen: Wir sind die europäischen Bürger. Wir sind das europäische Volk. Europa braucht Menschen, die sich länderübergreifend organisieren und bereit sind, der Oligarchie der Mitgliedstaaten die Stirn zu bieten. Menschen, die die Union befürworten, weil nur sie Frieden und Freiheit in Europa garantieren kann. Menschen, die im Zeitalter der Globalisierung politisch handlungsfähig bleiben wollen und begriffen haben, daß sie das nur mit einer gesamteuropäischen Politik und als Europäer erreichen können.
Die Weimarer Republik galt als Demokratie ohne Demokraten und ist daran gescheitert. Die Folgen haben die ganze Welt erschüttert. Die EU ist nur mit Europäern wirklich lebensfähig. Es liegt an uns, ob die Vision eines friedlichen, demokratischen und wirtschaftlich erfolgreichen Europas verwirklicht werden kann. Es liegt an uns, ob wir europäische Bürger werden. Mit dem Beginn der Beitrittsverhandlungen mit den ersten osteuropäischen Ländern hat der Countdown zur Wirklichkeit begonnen. Christoph Nick
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