In der neuen Nachbarschaft: Menschenliebe und Wohlwollen sind nicht immer einfach
Schreie hinter Wänden, Pakete an der Tür und Müll vor den Fenstern: Unsere Kolumnistin macht sich mit der noch immer neuen Wohnsituation vertraut.
I ch wohne noch nicht lange in meinem Haus und kenne die Nachbarn nicht. Zweimal nahm ich ein Paket an, das in beiden Fällen von den jeweiligen Nachbarn nicht bei mir abgeholt wurde. Nach einigen Tagen machte ich mich selbst auf dem Weg, klingelte mehrmals vergeblich, lief einmal sogar Leuten auf der Treppe hinterher. Ich überlege, keine Pakete mehr anzunehmen, weil ich nicht für sie verantwortlich sein will. Aber kann ich alle Leute in meinem Haus bestrafen, weil zwei ihre Pakete nicht abgeholt haben? Und weiß ich, warum sie es nicht getan haben? Kenne ich ihre Beweggründe, Ängste und Probleme? Menschenliebe und Wohlwollen sind nicht immer einfach.
Über mir schreit oft eine Frau, manchmal täglich. Sie schreit so sehr, als würde jemand sie töten.
Anfangs habe ich überlegt, die Polizei zu rufen, aber das Geschrei ändert mit der Zeit seinen Charakter. Dann schreit sie jemanden an, mit Worten. Diesen anderen Menschen kann ich niemals hören. Ich weiß nicht, ob er sich wehrt oder ob er Ursache dieses Geschreis ist. Langsam klingt es alles ab, wird der Wortschwall leiser. Ich kann mir darauf keinen Reim machen, begreife aber, dass dies ihr Leben ist, ihre Normalität.
Lärm im Treppenhaus, Poltern, gepresste Rufe, ich sehe aus dem Fenster, zwei Männer schieben ein Sofa in einen Transporter. Als ich später das Haus verlasse, sehe ich die abgeschraubten Seitenteile und zwei Rückenkissen am Gehweg liegen. Die Teile liegen da jetzt schon seit Wochen, sind inzwischen nass und schwarz.
Jeden Tag, wenn ich diese Sofateile sehe, sind sie mir ein Ärgernis. Ich verstehe Menschen nicht. Warum tun sie mir das an?
Und natürlich wissen sie gar nicht, dass sie mir etwas antun, das ist nicht ihr Gedanke dabei, aber jeden Tag, wenn ich diese Sofateile sehe, fühlt es sich so an, dabei hat es mit mir gar nichts zu tun.
Es hat etwas mit ihnen zu tun, wie sie fühlen und denken, aber sie sind Teil meiner Welt, meine Welt greift mich an, ohne es zu wissen, ohne es zu wollen. Mit Geschrei, mit Sofas. Sie erschüttert mich, verlangt mir etwas ab.
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Ich fahre in der S-Bahn nach Bergedorf. Zu mir setzen sich zwei Frauen und zwei Kinder, Ukrainerinnen, wie ich ihrer Sprache entnehme.
Die Frau mir gegenüber ist die Mutter, das kleinere Kind sitzt auf ihrem Schoß, daneben das Ältere. Sie essen Pommes, und der Geruch steigt mir in die Nase. Das Kind auf dem Schoß stößt mit seinen Stiefeln an mein Knie. Ich ärgere mich über sie, fühle mich eingeengt. Ich verurteile meinen Ärger, kann ihn aber nicht abstellen. Ich bin missmutig.
Bevor wir alle aussteigen, setzt die Mutter dem kleinen Kind seine Mütze auf, eine kleine Tschapka. Ich setze ebenfalls meine Mütze auf, eine große Tschapka. Ich habe sie seit einigen Jahren, es ist die beste Mütze, die es gibt.
Das kleinere Kind sieht mich an, sieht seine Schwester an und dann seine Mutter. Die Mutter lächelt, alle lächeln sie jetzt, strahlen mich an.
Sie strahlen mich so sehr an, dass ich schon glühe, von dieser so offen bekundeten Zuneigung. Das ältere Kind spricht mich auf Deutsch an: Meine Mutter hat auch so eine Mütze. Ich nicke, sage: „Das sind die Besten.“ Alle nicken und strahlen.
Eben noch war ich missmutig, jetzt bin ich bis oben hin voll Zuneigung. Draußen ist es dunkel und kalt, aber ich bin warm. Menschen. Sie sind so voller Überraschungen. Ich selbst so schwierig. Es gibt so viel Liebe.
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