■ In der U-Bahn: Berliner sind Arschlöcher
Die U8 schlängelt sich aus dem tiefen Osten Berlins heraus hinein in den Westen bis zur Hermannstraße und wieder zurück. Auf ihrer Reise von Wittenau über die Bernauer Straße, den Alex und Kottbusser Tor sitzen sie da, die Berliner, und kriegen ihren Mund nur auf, um irgendwelche Boshaftigkeiten loszuwerden. Lesen ihre B.Z. oder glotzen die vorbeifliegenden Lichter der entgegenkommenden Bahn an. Ganz versunken und für sich. Es gibt aber Momente, in denen diese Einzelgänger ihre Einzelheit vergessen und sich verbünden. Dies geschieht dann, wenn sich eine Boshaftigkeit nur im Kollektiv begehen läßt.
So wie neulich abend in der U8, Bernauer Straße. Die Tür geht auf, Leute strömen raus, neue rein und mit ihnen ein Opfer: Verdammt angetrunken schiebt er sein Damenfahrrad ins Abteil und klammert sich haltsuchend an den Lenker. Mitte Vierzig, Plautze, harmlos und betrunken schwankt er beim Anfahren gefährlich nach hinten, nach vorne, jeweils ein Ausfallschritt. Noch hat er die Situation halbwegs im Griff. Nächste Station ist Rosenthaler Platz. „Is dit Alexanderplatz?“ fragt er lallend in die Bahn rein. Die Mitfahrer schütteln stumm die Köpfe, eine kriegt den Mund auf: „Nee, dit dauert noch 'n Weilchen!“ Er nickt höflich und unterdrückt gekonnt ein Rülpsen. Sein Schwanken macht ihn zum Mittelpunkt des Geschehens. Alle warten nur darauf, daß er beim nächsten Ruck vornüber auf die Schnauze fällt. Das wäre lustig. Aber er enttäuscht die Hoffnungen und ist standhaft. Nächste Station ist Weinmeisterstraße. Und wieder: „s' Alexanderplatz?“ fragt er beherrscht und fixiert sein Vorderrad; so voll, daß er sich nicht mehr zutraut, seinen Ausstieg allein zu regeln. „Nee. Nu hammse ma Jeduld, junger Mann!“ kommt es zurück.
Endlich rauscht die Bahn in die unterirdischen Hallen des Alex. Fett steht es alle zehn Meter in großen Lettern auf orangenen Kacheln. Alle sehen es und wissen es sowieso. Die Türen gehen auf, Leute strömen raus, und der Kerl steht da, den Lenker immer noch fest im Griff. Alle warten gespannt und sitzen da. Warten auf seine Frage. Nichts passiert, er bleibt stumm, still versunken in seine Fahrradklingel. Nun frag schon, mach dein Maul auf, denk' ich bei mir. Gespannte Stille. Die Berliner sind sich einig, wissen, worauf es jetzt ankommt. Maul halten und abwarten. „Zurüüückbleiben!“ schreit die Abfertigerin durch die Halle, und das vor sich hindösende Häufchen Elend hat eine letzte Chance. Aber schon schieben sich unter gräßlichem Hupen die Türen zu.
Das wäre geschafft, denkt die Meute sich. Der Berliner Humor gerät nun in Fahrt, auf leisen Sohlen. Erwartungsvoll sitzen sie da. Einfahrt Jannowitzbrücke, die Stimmung ist kaum noch auszuhalten, die Reise nähert sich ihrem Höhepunkt. Die Türen öffnen sich, und es passiert: Er stellt seine Frage. Die Stimmung ist jetzt großartig! Meinem Gegenüber, einem hutzeligen Alten mit Gebetskäppchen, fließen die Tränen übers Gesicht.
Nur an einem Fahrgast geht dieser grandiose Witz komplett vorbei, wahrscheinlich liegt's am Pegel. Zwei Stationen weiter steigt er mürrisch polternd aus, mit der diffusen Ahnung, daß irgendwas schiefgelaufen ist. Axel Schröder
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