: In der Quizshow
Beschreiben, was uns so tough macht: David Foster Wallace’ Erzählungen aus der Mediengesellschaft – „Kleines Mädchen mit komischen Haaren“
von TOBIAS RAPP
Die Geschichte der deutschen Ausgabe von „Kleines Mädchen mit komischen Haaren“ könnte man sich auch als Geschichte aus dem Buch „Kleines Mädchen mit komischen Haaren“ vorstellen. Sie geht so: Ein Lektor auf dem Weg ins Verlagsgebäude denkt über die deutsche Ausgabe nach. Zehn Geschichten, ganz schön viel, müssen wir kürzen, neuer Autor, dann noch Kurzgeschichten, will keiner lesen, sind ja nicht in Amerika. Aber was nehmen wir raus und wie viel? Zwei oder drei Geschichten weglassen ist läppisch, da könnte man gleich alle nehmen, fünf Geschichten, das ist eine runde Sache, bei sechs kippt die Balance schon wieder, vier wären zu wenig, das wäre zu dünn, aber fünf? Ist schließlich ein ganz neuer Autor, kennt niemand – vielleicht müsste man ein Nachwort dazutun, oder reicht es, wenn man Don DeLillo auf dem Cover seinen Segen geben lässt? Nee, besser, man sortiert Foster Wallace noch einmal amtlich ein, Pynchon, Gaddis, Roth, Schüler von Autoren ohne Schule oder so.
So ungefähr sähe das Setting aus, es gäbe ein halbes Dutzend Figuren, genau beschriebene Verhältnisse untereinander, kurz umrissene biografische Schadensprofile. Am Ende der Geschichte ist eine Ehe in die Brüche gegangen, eine Liebschaft gescheitert, das Buch kommt raus, es ist ein Erfolg – und der Leser weiß von all dem nichts, außer dass sich eine gewisse Aufregung beim Erwerb des Buchs mitteilt. Denn: „ ‚Foster Wallace ist eine 3-stufige Rakete in die Zukunft . . .‘ Don DeLillo“, ruft es vom Cover. Das kann man ruhig glauben, obwohl nicht nur einige Geschichten aus dem Originalband noch der Übersetzung harren, sondern auch ein weiterer Band mit Storys, ein Essaybuch sowie zwei Romane. Zumindest „Infinite Jest“ – Foster Wallace’ Opus magnum, vor vier Jahren erschienen und 1.000 Seiten dick – wird in den USA auf eine Stufe mit „Die Enden der Parabel“ gestellt.
David Foster Wallace’ Biografie hört sich an, als sei für seinen Job gecastet worden. Sein Vater war Literaturprofessor, seine Mutter Englischlehrerin, als Kind trat er in Werbefernsehsendungen auf, als Jugendlicher stieß er bis auf Platz 17 der westamerikanischen Tennisrangliste vor. Er studierte Philosophie; als ihn das langweilte, begann er zu schreiben. Mittlerweile ist er Dozent an einer kleinen Universität in Illinois, und wenn er sich fotografieren lässt, hat er meistens ein Tuch um den Kopf und einen schwarzen Hund an seiner Seite.
Worum geht es also? Etwa um die amerikanische Quizshow „Jeopardy!“. Seit Jahr und Tag beherrscht ein Mädchen diese Rateshow. Noch niemand hat sie besiegt. Woche für Woche streicht sie die Gewinnsumme ein, um mit dem Geld die Therapie ihres autistischen Bruders zu bezahlen. Das Mädchen hat eine Beziehung mit der Tocher der Produktionsleiterin, die wiederum trinkt, weil ihr Exmann mittlerweile mit der Regisserin zusammen ist. Das Mädchen kann alle Fragen beantworten, weil seine Mutter, um mit ihren Liebhabern allein zu sein, es jahrelang mit seinem Bruder und einem Lexikon zusammen in ein Zimmer gesperrt hatte. Eines Tages wurden die Geschwister sogar ausgesetzt, damit sie aus dem Weg wären. Und nun ist der Bruder durch die Therapie einigermaßen kommunkationsfähig geworden und tritt in Jeopardy! gegen seine Schwester an.
Foster Wallace hat sein Programm in einem Interview so umrissen: „Literatur handelt davon, was es heißt, Mensch zu sein. Wenn man davon ausgeht, dass es eine Menge Dinge in den USA von heute gibt, die es schwierig machen, ein Mensch zu sein, dann ist die eine Hälfte des Jobs eines Schriftstellers, zu beschreiben, was uns so tough macht. Die andere Hälfte des Jobs geht darum, zu beschreiben, dass wir immer noch Menschen sind. Oder sein können.“
Und diese Konflike, diese Spannungen sucht Foster Wallace vor allem in der Medienindustrie. In einer Quizshow, in der Geschichte einer alternden Schauspielerin, die bei David Letterman auftritt, bei einem Yuppie-Anwalt, der merkwürdige sexuelle Vorlieben hat und mit einer Gruppe befreundeter Punks in ein Keith-Jarret-Konzert geht. Von der Szenerie hat das manchmal eine Nähe zu Bret Easton Ellis; trotzdem macht Foster Wallace das genaue Gegenteil.
Wenn Easton Ellis die Welt als Oberfläche beschreibt, in der Menschen als Kleiderständer herumlaufen, wo nur der schöne Schein zählt und alles kalt und grausam ist, so geht Foster Wallace anders vor. Ihn interessieren die vielen kleinen Subjektivitäten, die sich etwa rund um die Produktion einer Quizshow entwickeln. Nicht dass er dort Widerstände ausmachen würde, eher Widersprüche: Denn es sind all diese kleinen und großen menschlichen Tragödien, all die Gefühle, Obsessionen und Süchte, Nettigkeiten und Bosheiten, die diese Quizshow überhaupt zum Funktionieren bringen. Foster Wallace erzählt den zweidimensionalen Fernsehbildern ihre dritte Dimension dazu. Denn der Medienapparat allein funktioniert nicht. Dass wir alle vom Materialismus beherrscht werden, würde Foster Wallace nie bestreiten, dass er uns alle in Abziehbilder verwandelt hat, sehr wohl.
David Foster Wallace: „KleinesMädchen mit komischen Haaren“.Aus dem Amerikanischen von MarcusIngendaay. Kiepenheuer & Witsch,Köln 2001, 304 Seiten, 38 DM
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