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In der Heimat und doch nicht zu Hause

Türkische Rückkehrerkinder: In Deutschland sind sie „die Türken“, in der Türkei „die Deutschen“/ Yaman lebt in Istanbul und träumt von Burgdorf/ Für Mädchen ist der Kulturschock noch größer  ■ Von Ernst Scagnet

Die Hose zu kurz, die Ärmel zu lang. Zögernd geht Yaman über den Schulhof, vorbei an der goldschimmernden Büste des Kemal Mustafa, genannt Atatürk, Vater der Türken, Yaman geht unter Atatürks meterhohem Portrait, das, auf Stoff und Papier gemalt, vom Dach über die Wand hängt, er geht über den staubigen Hof, durch den wilden Pausenlärm.

13 Jahre alt ist Yaman. Vor drei Monaten noch hat er in Burgdorf bei Bern gelebt. Heute geht er in Bahçelievler Anadolu Lisesi in Istanbul zur Schule. Yaman ist gekleidet, wie es die Schulordnung vorschreibt: dunkelblaue Jacke, Hose mit Bügelfalten, schwarze Schuhe, weinrote Krawatte. Die Krawatte hängt schief. Die Schwester hat „chley grännet“, ein bißchen geweint, als sie fort mußte von Burgdorf. Yaman ist „chley truurig“, ein bißchen traurig gewesen. Dort ist er aufgewachsen, dort war er zu Hause. Die Eltern wollten weg von dem Ort, der für sie die Fremde bedeutete, dahin zurück, wo sie sich zu Hause glauben. Jetzt lebt Yaman in einer Welt, die er nur von den Ferien kannte, und denkt an die Freunde in der Schweiz. Er schreibt Briefe und bekommt keine Antwort. Türkisch kann er nicht gut sprechen. Wenn er groß ist, will er zurück.

Es ist schwer für Yaman, aber eigentlich geht es ihm nicht wirklich schlecht. Jetzt verkraftet er den Wechsel vermutlich noch besser, als wenn er zwei, drei Jahre älter wäre, seine Familie ist bei ihm– und er ist ein Bub. Für Mädchen ist der Kulturschock viel größer. Auch sie müssen sich zurechtfinden in der Heimat, in einer Welt, die ihnen oft fremder wird, je länger sie darin leben. Ihre Verhaltensmuster, ihre Wertskala sind europäisch geprägt; sie können manches nicht verstehen, was einer in der Türkei aufgewachsenen Türkin vor dem Hintergrund ihrer Kultur notwendig und unabänderlich scheinen mag.

Für Mädchen ist der Kulturschock viel größer

Manche Gebote verändern das Leben der Mädchen so einschneidend, wie sie es nie geahnt haben. Noch immer wird gefordert, daß Mädchen bis zur Heirat jungfräulich bleiben. Zwar wird dem in der Oberschicht und in einem Teil der oberen Mittelschicht längst nicht mehr nachgelebt. Doch die Mädchen, deren Eltern vom Land stammen und ein traditionelles Türkeibild mit sich herumtragen, können so gut wie keinen Schritt mehr allein gehen. Manche Mädchen haben schon einen zweifachen Kulturschock hinter sich. Erst mußten sie ihren Eltern in das Gastland nachreisen, türkische Normen ablegen, eine neue Sprache lernen, sich in einer anderen Kultur zurechtfinden. Jetzt sollen sie wieder vergessen: ein hoher Preis für das bessere Leben, von dem ihre Eltern träumten.

Aysin (Name geändert) ist 18. Sie ist blaß und nervös und redet so hastig, als wollte sie alles auf einmal loswerden. Sie ist in Deutschland aufgewachsen, hat nur deutsche Freunde gehabt, besuchte die Disco. Doch eines Tages sagten ihr die Eltern: Du bist keine Türkin mehr. Du hast den Islam vergessen. Wenn du dich nicht änderst, verheiraten wir dich, oder du mußt in die Türkei. Während der Sommerferien in Istanbul erfuhr Aysin, daß sie nicht mehr nach Deutschland zurückkehren würde. Ihre Eltern hatten sie von der Schule abgemeldet. Von den Freunden hatte sie sich nicht verabschiedet. Die Eltern reisten ab. Aysin blieb in der Türkei bei ihrer Großmutter.

„Ich habe mir die Pulsadern aufgeschnitten“

„Von einem Tag auf den anderen durfte ich überhaupt nichts mehr. Es war unerträglich! Sie haben mich nicht verstanden, auch wenn ich türkisch sprach. Du redest komisch, sagten sie, du bist Ausländerin. Ich war verzweifelt, bin abgehauen, habe getrunken, und einmal habe ich mir die Pulsadern aufgeschnitten.“ Jetzt geht es Aysin etwas besser. Sie hat begonnen, Tagebuch zu führen, und war dabei zu der Erkenntnis gelangt, daß die Menschen hier keine Schuld treffe. „Sie denken anders, sie haben eine andere Religion, ihr soziales und wirtschaftliches Leben, alles ist anders. Dafür können sie nichts. Und ich kann auch nichts dafür, daß ich in Deutschland neun Jahre zur Schule gegangen bin. Es ist eben so.“ Mit dieser Einsicht könne sie leben, hier oder in Deutschland, sagt sie tapfer.

Yaman beim Müdür. Der Müdür ist der Rektor, ein allmächtiger Mann. Er sitzt unter Atatürks Portrait. Das Portrait ist, wie in jedem Schulraum des ganzen Landes, flankiert vom Text der Nationalhymne und von Atatürks Rede an die Jugend. Auf dem Schreibtisch, unter einer kleinen türkischen Flagge, steht in Holz geschnitzt der Name des Rektors: Mehmet Colakoglu. Er rückt Yamans Krawatte zurecht, faßt ihn bei den Schultern und stellt ihn wie eine Schaufensterpuppe gerade, spricht in freundlichem Ton, hebt mahnend den Zeigefinger. Haltung, Yaman. Der Bub blickt den Rektor an. Hört er überhaupt zu? Auf einen Wink verläßt er den Raum.

Bahçelievler, Cagaloglu, Uesküdür sind staatliche Eliteschulen, Anadolu Lisesi genannt, an denen Kinder von Rückkehrern ohne Prüfung Anrecht auf einen Platz haben. Sie sind zusammen mit anderen Rückkehrerschulen Mitte der achtziger Jahre eingerichtet worden. Damals schloß die Bundesrepublik Deutschland mit der Türkei ein Kulturabkommen und verpflichtete sich, hauptsächlich für diese Schulen 80 deutsche Lehrer in die Türkei zu entsenden. „Die Kinder sollen die Werte der türkischen Kultur annehmen“, sagt der Rektor. Auch für die Lehrer gibt es Vorschriften: Anzug und Krawatte für die Männer, kein Vollbart, keine Sandalen, keine langen Haare, Rock oder Kleid für die Frauen, keine nackten Arme, Strümpfe, außer im Hochsommer. Der Müdür beginnt aus den Leitlinien für das nationale Erziehungswesen vorzulesen. „Der Sinn der türkischen Erziehung besteht darin, daß sich Kinder im Sinne von Atatürk geistige, menschliche, kulturelle Werte aneignen... Verantwortung gegenüber der demokratischen Türkei... Im Angesicht der Menschenrechte und des Grundgesetzes... Eine moderne, ausgewählte Gesellschaft... Gleichheit... Achtung der Bedürfnisse des einzelnen.“ Das sei nur in der Schule zu erzielen und zu festigen, meint der Rektor.

Ali, heute 19 Jahre alt, glaubt kein Wort davon. Er ist zwischen Deutschland und der Türkei hin- und hergependelt und ist schließlich durch eine dieser Schulen gegangen. Er hat vieles gesehen, sagt er, und alles durchschaut. Unbewegt erzählt er und analysiert kühl. „Der Zweck der Schule in der Türkei ist die Disziplinierung. Man will Schüler haben, die keine Fragen stellen, und Menschen erziehen, die tun, was man ihnen sagt, ohne aufzumucken.“ So hart sieht er das? „Ja. Ich habe Schüler gekannt, die haben fast den Verstand verloren, weil sie dachten, sie könnten sich hier durchsetzen. Das ist unmöglich. Friß oder stirb, heißt die Parole. Es geht nur, wenn man so tut, als würde man's fressen. Man wird zugeritten wie ein wildes Pferd, auch, weil die Schule Angst hat vor dem Fremden, das die Schüler mitbringen.“

Ali kann keiner mehr etwas vormachen

Für Ali, vom Westen geprägt, sieht es so aus, als trügen Türken eine Maske, als meinten sie Schwarz, wenn sie Weiß sagen. Ein Mensch, sagt er, braucht Liebe und Zärtlichkeit. Es gibt für einen Jüngling wie ihn aber kaum eine Chance, Mädchen zu treffen, und an ein gemeinsames Ausgehen ist im allgemeinen nicht zu denken. In der Stadt, in der er jetzt lebt, werden Mädchen im Minirock angespuckt, und wer es wagt, Hand in Hand zu gehen, wird belästigt. Gleichzeitig strotzen die Kioske von Pornoheften. Mit harten Videostreifen läßt sich auch hier ein gutes Geschäft machen. Und im Fernsehen werden romantische Liebesgeschichten erzählt, in denen die Mädchen Miniröcke und die Jungen lange Haare tragen. Ali hat solche Dinge durchschaut und sich damit abgefunden, in der Schule und außerhalb. Auch er hat sich eine Maske aufgesetzt wie viele Schüler, die er kennt. „Es war die einzige Möglichkeit. Ich wußte, daß ich keine Zukunft haben würde, wenn ich nicht durch die Schule komme.“

Der Müdür hat recht. Die Schule prägt die Kinder. Manche wohnen weit draußen am Rand der Millionenstadt Istanbul, weil da die Wohnungen billiger sind. Sie stehen um halb fünf Uhr auf, damit sie um sechs zum Bus kommen, der sie bis nach acht zur Schule bringt. An den Schulen für Rückkehrer aus deutschsprachigen Ländern werden die meisten Fächer in Deutsch unterrichtet, an andern in Englisch oder Französisch. Einem Unterricht in türkischer Sprache könnten manche Kinder ohnehin kaum folgen. In Deutschland sind sie „die Türken“ gewesen, und hier nennt man sie „die Deutschen“ oder Almancilar, ein Wort mit abwertendem Unterton, ein Synonym für das Fremde, für das, was von draußen kommt.

Über Politik darf man nicht sprechen

Der Stoffplan, sagen die Lehrer, ist auch an den Rückkehrerschulen überfrachtet und unsinnig, aber sie müssen ihn durchziehen. Kaum ein Lehrer erlaubt es sich, Rücksicht auf die Verschiedenheit der Kinder zu nehmen oder auf das, was sie mitgebracht haben. Diskutiert wird nicht, über Politik darf man sowieso nicht sprechen. Eine Berufsschulausbildung gibt es kaum, so bleibt nur der Weg über das Gymnasium. Viele Eltern bereiten ihre Kinder an teuren Privatschulen darauf vor, schicken sie in die sogenannten Unterrichtshäuser, Drillanstalten, in denen man die Kinder auch samstags und sonntags lernen sieht. Wer durchfällt, versucht es immer wieder.

Die Rückkehrer haben zwar ihren Platz im Lisesi zugesichert bekommen, aber danach sind sie dem Schulsystem, den Unterrichtshäusern, dem Kampf um die Zulassung zur Universität genauso ausgesetzt – selbst wenn ihre Schulen ursprünglich gegründet wurden, um ihnen die Rückkehr zu erleichtern. Viele finden, daß die Jahre in der Türkei verlorene Jahre sind. Verloren die Kindheit, verloren das Selbstwertgefühl, verloren der Umgang mit dem, was sie mitgebracht hatten. Sie sitzen zwischen allen Stühlen.

Die wenigsten sind so gerne in die Türkei gekommen wie die 20jährige Hande. Kaum jemand hat so viel unzerstörbare Kraft und so viel hinübergerettetes Selbstbewußtsein. Sie liebt die Herzlichkeit der türkischen Menschen, sie hat mit gleichgesinnten Freundinnen aus deutschen und türkischen Elementen eine eigene Sprache entwickelt. Sie erzieht die jungen Männer, die mit ihr ausgehen wollen, zu einer neuen Haltung gegenüber einer jungen Frau und zu einer Offenheit, ohne die sie nicht mehr leben will. „So, wie ich auf die Türkei nicht verzichten kann, kann auf Deutschland nicht verzichten“, sagt sie. „Ich will beide, ich bin ein Teil von diesem und ein Teil von jenem. Über Verbote setze ich mich einfach hinweg. Wer kann seine eigene Vorstellungen entwickeln, wenn er sich alles verbieten läßt?“

Wieder hebt der Müdür den Zeigefinger. Es ist Freitag nachmittag. Die ganze Schule ist auf dem Hof versammelt, Schüler und Lehrer, Türken und Deutsche. Der Müdür hält eine Ansprache. Die türkische Fahne wird hochgezogen. Stillgestanden, Yaman. Der Müdür stimmt die Nationalhymne an. Yaman kennt die Worte nicht.

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