■ In der Diskussion um Scheinselbständige und 630-Mark-Gesetz bilden sich neue Allianzen – quer zu den alten Lagern: Die Doppelmoral der Sozialstaatsbürger
Sabine A. aus Lankwitz ist gelernte Stationshilfe mit Nebenjob. „Wenn das Geld am Ende des Monats nicht stimmt, gehe ich putzen, und zwar schwarz“, zitiert sie der Berliner Kurier zum Thema 630-Mark-Jobs, das Gesicht hinter sechs Hundertmarkscheinen verborgen. Auch Danuta S. aus Britz ist nicht gut auf die rot-grüne Koalition zu sprechen. „Früher habe ich 600 Mark bei meinem Nebenjob verdient. Nun bleiben mir nur noch 300 – zuwenig!
„Eine Wutwelle rast durch Deutschlands Branchen!“ dichtet Bild zum Thema Minijobs, und auch die unausgewogen ausgewogene Zeit nörgelt, daß die Bundesregierung ihre Kraft damit vergeude, eine „absurde Regelung für 630-Mark-Jobs“ durchzusetzen und „sogenannte Scheinselbständige zu jagen“, die doch „frische Dynamik“ in die Volkswirtschaft bringen. Die allgemeine Empörung über die neuen Sozialgesetze ist bemerkenswert, nicht nur weil sie auf praktische Probleme verweist, sondern auch, weil sich hier neuartige Allianzen bilden – über alle politischen Lager hinweg. Ihnen gemein ist die Doppelmoral der Sozialstaatsbürger: Soziale Sicherung ist gut – aber bitte ohne neuen Abgaben und Bürokratie.
In der Entrüstung verschwinden die Schranken zwischen Arbeitgeber und Beschäftigtem, als hätte sich die Klassengesellschaft plötzlich in nichts aufgelöst: Hinter dem empörten Bäckermeister, der wütend ist wegen der neuen Sozialversicherungsbeiträge, stehen wie ein Mann seine 630-Mark-Nebenjobber, die ebenso sauer sind über ihre neue Steuerpflicht. Die staatliche Musikschule befürchtet höhere Personalkosten durch neue Sozialversicherungsbeiträge für ihre Honorarkräfte und droht mit Jobstreichung. Das wiederum bringt ihre Musiklehrer auf den Plan, die sich gleichfalls über die neuen Gesetze ereifern.
„Herzlos und unsozial“ sei die Gesetzesänderung zu den 630-Mark-Jobs, klagt Peter Schüren, Dekan der rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität Münster. Die neue Regelung treffe „gerade die Ärmsten, für die der 630-Mark-Job oft die einzige Erwerbsquelle ist“. Da die Uni nun zehn Prozent des Lohns zur Kranken- und zwölf Prozent zur Rentenversicherung zahlen müsse, könne sie nicht mehr so viele studentische Hilfskräfte einstellen. Schon frech, wie sich der öffentliche Dienst aus der Sozialversicherungspflicht exkulpiert.
Das Argument von Konservativen und einigen Grünen gegen die neuen Gesetze lautet unisono, die Arbeitswelt aus scheinselbständigen Informatikern, Aushilfskellnerinnen und Kunstlehrern sei eben schon so bunt und vielfältig, daß eine neue Abgabenpflicht hier nur störe, bürokratischen Ballast schaffe, sogar Arbeitsmöglichkeiten vernichte. In der Tat, die Jobber in der Grauzone der Minijobs und Honorartätigkeiten agieren nicht mehr in den Lücken des Sozialsystems, sie sind auch das Sozialsystem. Im Widerstand gegen die Gesetze zeigt sich schlagartig, wie sehr sich schon die gängige Sozialmoral vom traditionellen Abgabenschema der Sozialversicherungen entfernt hat, der Grundregel nämlich, daß bei jeder Arbeitnehmertätigkeit sowohl die Unternehmer als auch die Beschäftigten ihr Scherflein an die Sozialkassen abgeben.
Wenn Bundeskanzler Schröder jetzt die alte Solidarpflicht einklagen will, tappt er in seine eigene moralische Falle. Er selbst forderte immer von Berufseinsteigern, unkonventionelle Wege zu gehen und Risiken nicht zu scheuen, wenn es darum geht, Arbeit zu schaffen. Das Modell paßt verdächtig genau auf Scheinselbständige oder 630-Mark-Jobber mit ihren Arbeitgebern. Sie gelten längst nicht mehr als Sozialbetrüger der feineren Art, vielmehr sind sie zu Partisanen in der Jobkampfgesellschaft aufgestiegen: der Multimedia-Unternehmer mit seinen Zuarbeitern, der junge Jurist auf Honorarbasis, der Kulturveranstalter mit flexiblen Aushilfskräften.
Dahinter klingt nur noch dünn das Klagelied über die Ausfahrer, die von ihren ehemaligen Speditionsunternehmern erst gekündigt und dann nur noch auf eigenes Risiko als Scheinselbständige weiterbeschäftigt wurden. Es verstummt die Nörgelei am Einzelhandel, in dem alleinerziehende Frauen kaum noch einen sozialversicherten Job finden, weil nur noch mit Minijobbern gearbeitet wird. Und niemand redet mehr über die Frage, ob es denn gerechter wäre, wenn Nebenjobber ihren Zuverdienst wie früher abgabenfrei kassieren könnten, während Leute mit nur einem Einkommen bis zur letzten Mark Beiträge und Steuern zahlen müssen.
Den allgemeinen Protest schürt, daß jedes neue Umverteilungsgesetz neue Gerechtigkeitsprobleme aufreißt. So gehören die Nebenjobber nicht unbedingt zu den Hochverdienern, es scheint, als hätte der „böse“ Abgabenstaat mit der Neuregelung der 630-Mark-Jobs wie immer nur die Kleinen getroffen – beispielsweise, wenn jetzt Verkäuferinnen mit Nebenjob gut 200 Mark monatlich weniger in der Tasche haben. Und das Gesetz gegen die Scheinselbständigkeit führt teilweise dazu, daß Auftraggeber aus Angst vor Nachzahlungen in die Sozialversicherungen ihren Ein-Mann-Auftragnehmern die Zusammenarbeit aufkündigen, das aber sind ohnehin die schwächsten Partner.
Es ist das Elend neuer Sozialgesetze, daß nur noch der Praxistest über die Qualität der jeweiligen neuen Regelungen entscheidet. Die Kommissionen zur „Nachbesserung“ der 630-Mark-Regelung und des Scheinselbständigen-Gesetzes dienen einzig dazu, Zeit zu gewinnen, um die praktischen Auswirkungen abzuwarten. Wenn jetzt Zehntausende NebenjobberInnen in Putzfirmen und Kneipen ihren Job schmeißen, weil er sich nicht mehr lohnt, und gemeinsam mit ihren Arbeitgebern protestieren, dann schafft das immensen politischen Druck. Gut möglich, daß sich am Ende die neuen Gesetze zu 630-Mark-Jobs und zur Scheinselbständigkeit in Ausnahmetatbestände auflösen.
Das aber wäre eine Zäsur für die rot-grüne Sozialpolitik. Wenn aus den Arbeitseinkommen keine neuen Sozialversicherungsbeiträge für die Kranken- und Rentenkassen einzutreiben sind, muß mittel- und langfristig das Beitrags- und Leistungssystem umgestellt werden. Der „gute“ Sozialstaat erodiert. Die soziale Sicherung wird dann nicht mehr hauptsächlich über Sozialversicherungsbeiträge, sondern über Steuern finanziert – und unterm Strich geringer ausfallen: Das ist das künftige Modell. Was beispielsweise auch bedeutet, daß Arbeitgeber künftig weniger in der Pflicht sind als heute, für Alter und Krankheitsfälle ihrer Beschäftigten mitzusorgen. Nicht die Selbständigen werden dann den Arbeitnehmern, sondern die Arbeitnehmer den Selbständigen angeglichen. Wer die neuen Sozialgesetze pauschal verdammt, muß sich über die politischen Folgen im klaren sein. Barbara Dribbusch
Soziale Sicherung ist gut – aber bitte ohne neuen Abgaben und BürokratieDie Jobber agieren nicht in den Lücken des Sozialsystems, sie SIND das System
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