In Mexiko verschwundene Studenten: Der endlose Kampf gegen Lügen
Vor 9 Jahren wurden in Mexiko 43 Studenten entführt. Politik und Polizei sollen verwickelt sein. Hintergründe liefern jetzt US-Drogenfahnder.
Mit anderen Studenten des Lehrerseminars Ayotzinapa macht er sich im September 2014 in die Kleinstadt auf. Sie wollen dort Busse „beschlagnahmen“, mit denen sie zu einer Demo nach Mexiko-Stadt fahren wollen. Eine ungewöhnliche, aber nicht unübliche Art und Weise von gewerkschaftlichen und sozialen Aktivist*innen, sich solche Fahrten zu organisieren.
In seine Heimatgemeinde wird Bautista nie wieder zurückkehren. Polizisten stoppen die Busse, nehmen die jungen Männer fest und übergeben sie Kriminellen. Schüsse fallen, sechs Menschen sterben. Von Bautista und seinen Kommilitonen fehlt seither jede Spur.
Genau neun Jahre ist es her, seit die 43 Studenten in der Nacht vom 26. auf den 27. September 2014 in Iguala verschleppt wurden. Seither suchen Cristina Bautista, die Mutter von Benjamín, und andere Angehörige verzweifelt nach ihren Liebsten. Derzeit bereitet sich die 48-Jährige wieder auf Aktionen zum Jahrestag vor. „Nie dachte ich, dass wir nach so langer Zeit nicht wissen, was mit ihnen passiert ist“, sagt sie der taz. Der Verlust, der ewige Kampf, die Lügen und Demütigungen der Behörden belasten die Mütter, Väter und Geschwister ständig.
Gezielt falsch ermittelt
Von Anfang an hatten die Angehörigen und Menschenrechtsverteidiger*innen Hinweise darauf, warum die Ermittlungen nicht vorankommen: Neben der lokalen Polizei und der kriminellen Organisation „Guerreros Unidos“ könnten auch Bundespolizist*innen, die Armee und Politiker*innen auf höchster Ebene in das Verbrechen verstrickt sein.
Recherchen einer Unabhängigen Internationalen Expertengruppe (GIEI) bestätigten, dass der damalige Generalstaatsanwalt Jesús Murillo Karam gezielt falsch ermittelte und der oberste Polizeichef Beweise manipulieren sowie Gefangene foltern ließ, um eine „historische Wahrheit“ der Tatnacht festzuschreiben. Demnach seien die entführten Studenten auf einer Müllhalde von Kriminellen verbrannt worden. Die Tat sollte so auf ein lokales Problem reduziert werden, um zu verschleiern, was tatsächlich passiert ist.
Drogen im Bus?
Vor wenigen Wochen veröffentlichte die New York Times nun Informationen der US-Antidrogenbehörde DEA, die alle Befürchtungen von Bautista und ihren Mitstreiter*innen bestätigten. Die Fahnder hatten 2014 rund 23.000 Textnachrichten abgefangen, die aufzeigen, dass fast alle Zweige der Regierung des Bundesstaats Guerrero, in dem Iguala liegt, im Auftrag der Guerreros Unidos gehandelt haben.
Die DEA hatte die Kommunikation überwacht, weil die Kriminellen regelmäßig große Mengen Heroin aus Guerrero in die USA schmuggeln. Einmal mehr verhärtete sich der Verdacht, dass die Guerreros Unidos die Studenten für eine rivalisierende Bande hielten und die jungen Männer möglicherweise einen Bus gekapert hatten, in dem sich Drogen befanden.
Die abgefangenen Nachrichten zeigen die korrupten Strukturen auf, mit denen die Guerreros Unidos agieren, um im Schutz der Sicherheitskräfte Drogen zu transportieren. Die Polizeichefs, die die Studenten festnehmen ließen, standen demnach ebenso im Sold der Kriminellen wie das Militär. Bandenmitglieder besprechen in den SMS mit ihren in Chicago lebenden Chefs ihr Vorgehen. „Sollen wir ihn kalt machen?“, fragt ein Krimineller wegen eines abtrünnigen Informanten aus dem Rathaus.
Es brauchte Unterstützung der US-Drogenfahnder
Vor allem aber bestätigten die Nachrichten, wie stark die Armee am Verschwinden der 43 Studenten beteiligt war, erklärt Santiago Aguirre von der Menschenrechtsorganisation Centro ProDH. Den Ermittlern seien die Informationen schon bekannt gewesen, da die DEA sie vor einem Jahr an die mexikanischen Behörden weitergegeben habe. Sie führten etwa zur Verhaftung eines Generals, der damals das Infanterie-Bataillon von Iguala kommandierte.
Offenbar brauchte es die Unterstützung der US-Drogenfahnder, um bei der Suche nach den Täter*innen voranzukommen. Denn das mexikanische Militär weigert sich bis heute, Dokumente herauszugeben, die mehr Klarheit schaffen könnten. Die Expertengruppe stellte deshalb vor zwei Monaten ihre Arbeit ein. „Es besteht ein bewusstes Interesse daran, die Tatsachen nicht aufzuklären und substanzielle Teile im Dunkeln zu halten“, erklärt GIEI-Mitglied Carlos Beristain. So mache eine Weiterarbeit keinen Sinn.
Für Cristina Bautista war die Entscheidung ein schwerer Schlag. Ohne Recherchen der unabhängigen Expert*innen wären viele Fakten nie ans Licht gekommen. Etwa, dass Soldaten vermeintliche Beweise auf einer Müllhalde platzierten, um die „historische Wahrheit“ zu untermauern.
Jahrelang belogen und betrogen
Immer wieder stieß die GIEI auf die fragwürdige Rolle des Militärs. Die Soldaten waren in der Nacht über ein gemeinsames Funksystem ständig über das Vorgehen der Polizisten informiert. Zudem hatten sie einen Spitzel in der Uni, der auch verschleppt wurde. „Es war eine koordinierte Aktion, die Armee hatte unsere Söhne schon im Blick, als sie Ayotzinapa verließen“, erklärt Bautista. Noch Tage nach dem Verschwinden wussten die Soldaten, wo sich einige Studenten befanden, gaben die Info aber nicht weiter. Dabei hätten so Menschenleben gerettet werden können.
Jahrelang fühlten sich die Angehörigen von Strafverfolgern belogen und von Politiker*innen betrogen. Nichts ging voran. Als dann 2018 Andrés Manuel López Obrador die Präsidentschaft übernahm, keimte neue Hoffnung auf. Der Staatschef erklärte die Aufklärung der Tat zur Chefsache. Eine Wahrheitskommission wurde gegründet, deren Vorsitzender sprach von einem „Staatsverbrechen“. Ein Sonderstaatsanwalt wurde ernannt, der Ex-Generalstaatsanwalt verhaftet und gegen den Polizeichef Haftbefehl erlassen.
Die Strafverfolger ließen zahlreiche Beamt*innen, Politiker*innen, Kriminelle und sogar Militärs verhaften. Viele von ihnen sind jedoch wieder auf freiem Fuß, zudem mussten früher Verhaftete freigelassen werden, weil sie gefoltert worden waren. Fazit: Bis heute ist kein einziger der Täter für das Verbrechen strafrechtlich verurteilt worden. Und die Angehörigen wissen immer noch nicht, was mit ihren Liebsten passiert ist.
Nicht nur Angehörige sind zunehmend wütend
Dass die Versprechungen des Präsidenten nicht eingehalten wurden, lässt nicht nur die Angehörigen zunehmend wütender werden. Immer wieder ziehen Ayotzinapa-Studenten vor militärische Einrichtungen, werfen Steine oder Molotowcocktails. Erst vergangene Woche lieferten sie sich in Iguala wieder Auseinandersetzungen mit Polizisten und sprühten auf die Kasernenwände: „Es war das Militär.“
Auch Cristina Bautista verzweifelt an der Blockadehaltung. Immer wieder muss sie daran denken, wie sie nach dem 27. September 19 Monate das Ayotzinapa-Gelände nicht verließ und nie nach Hause ging, weil ihr Sohn wissen sollte, dass sie auf ihn warte.
Dieser Text stammt aus der wochentaz. Unserer Wochenzeitung von links! In der wochentaz geht es jede Woche um die Welt, wie sie ist – und wie sie sein könnte. Eine linke Wochenzeitung mit Stimme, Haltung und dem besonderen taz-Blick auf die Welt. Jeden Samstag neu am Kiosk und natürlich im Abo.
Doch die 48-Jährige gibt nicht auf. „Wir hoffen weiterhin darauf, dass López Obrador sein Wort hält“, sagt sie. Aber auch sie weiß, dass die Macht des Militärs weit über die des Präsidenten hinausgeht. Im Krieg um Drogenanbaugebiete und Schmuggelrouten liefern sich Mafiagruppen zudem schwere Gefechte, die inzwischen nicht mehr nur mit Sturmgewehren, sondern auch mit bewaffneten Drohnen geführt werden. Polizisten, die mit den Kriminellen an den Kontrollstellen der Mafia stehen, erscheinen als Staffage. Juristen stehen auf der Gehaltsliste von Verbrecherorganisationen.
Das Schicksal nicht hinnehmen
Bautista und ihre Mitstreiter*innen leben in diesen Verhältnissen. Manche Angehörige sind bereits gestorben, andere schwer krank. Doch sie wissen: Ohne ihren Einsatz würde heute niemand mehr über die 43 verschleppten Studenten reden – so wie auch die anderen 111.000 in Mexiko Verschwundenen nur Beachtung finden, weil viele ihrer Mütter, Väter oder Geschwister ihr Schicksal nicht hinnehmen.
Benjamín Ascencios Mutter ist deshalb auch zum jetzigen Jahrestag wieder ständig unterwegs: erst in der vier Stunden entfernten Landeshauptstadt Chilpancingo, dann auf der Demo in Mexiko-Stadt und danach in Iguala, um den in der Nacht Ermordeten zu gedenken. Sie hofft bis heute, dass ihr Sohn noch am Leben ist. „Die Behörden wissen doch gar nichts“, sagt sie und wiederholt, was viele Angehörige fordern: „Lebend habt ihr sie uns genommen, lebend wollen wir sie zurück.“
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