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In MemoriamDer Mann, der vieldimensional lebte

Vor 83 Jahren starb am 30. November 1937 Harry Graf Kessler. Der ewige Staunende, ewige Mitmischer war ein polyglotter Kulturtausendsassa.

Eine Frau vor dem Porträt „Harry Graf Kessler“ von Edvard Munch, 1906 Foto: dpa

Kurz vor seinem Tod vor heute 83 Jahren soll Harry Graf Kessler noch von einer übersinnlich schönen Kirche deliriert haben. So erzählt es ein Nachruf der Schriftstellerin Annette Kolb: „Nie hat es noch so eine Schöne gegeben! Richtet mich auf, dass ich sie besser sehe!“, rief er wohl aus dem Krankenbett.

Die Anekdote will, dass „der rote Graf“ Kessler starb, wie er gelebt hat. Als ewiger Staunender, als ewiger Mitmischer, der es doch trotz aller Anstrengungen nie in die allervorderste Reihe seiner Zeitgenossen schaffte, in der es allerdings nur so wimmelt vor Protagonisten der klassischer Moderne. Da war dann kaum mehr Platz für den polyglotten, femininen Kulturtausendsassa.

Aber vielleicht rückte er auch deshalb in den Hintergrund, weil es für sein Biografie keine geradlinige Lesart gibt. Dabei ist sein Leben gut belegt: mit 12.000 Seiten Tagebuch und Archivregale füllendem Briefwechsel. Als hätte er ein Social-Media-Profil hinterlassen, weiß man, mit wem Kessler an jedem beliebigen Tag vor hundert Jahren zu Abend gegessen hat.

Der allseits vernetzte Mann

Da ist aber auch die an Manie grenzende Sprunghaftigkeit des Autors, Politikers, Kunstsammlers und Mäzens, Museumsdirektors, PAN-Redakteurs, Künstlerbund-Begründers und so fort, die seiner Geschichte einer einfach verdaulichen Dramaturgie entzieht.

Mit Vorliebe trieb er sich auch in den Ateliers der Künstler herum und bemäkelte die unfertigen Arbeiten

Bei Arte heißt er „Der Mann, der alle kannte“, die Stiftung Brandenburger Tor titelte „Flaneur durch die Moderne“, und die Welt nannte ihn einmal den „größten deutschen Dandy“.

In Frankreich ist er geboren und gestorben, in England zur Schule gegangen, in Deutschland pendelte er ständig zwischen Berlin und Weimar und ließ sich nie ganz nieder. Treu blieb er nur zwei Weggefährten: der Politik und der Kunst. Während seine Berliner Wohnung mittlerweile einer Einzelhandelskette gewichen ist, wurde die in Weimar noch vor ein paar Jahren von einer Familie bewohnt, die um den berühmten Vorbesitzer wusste. Eine Kopie seines Porträts von Edvard Munch hing dort über die volle Höhe des Flurs.

Beengte Wohnverhältnisse

Gemessen an den wirtschaftlichen Verhältnissen, die der von Wilhelm II. in den Grafenstand erhobene Kessler bis zu seinem Exil 1933 genoss, waren beide Wohnungen eher beengt. Zwar wurden sie von Henry van de Velde möbliert, dem Kessler zur Leitung der Kunstgewerbeschule in Weimar verhalf, und strotzten vor heute weltberühmten Kunstwerken des Impressionismus, ihre mittelständische Größe dürfte jedoch die von Kessler so gern ausgerichteten Soireen personell stark begrenzt haben.

Insgesamt besaß Harry Kessler schätzungsweise 200 Meisterwerke seiner vor allem französischen Künstlerzeitgenossen wie Cézanne, Seurat, Renoir und Maillol. Mit Vorliebe trieb er sich auch in den Ateliers der Künstler herum, vergab Aufträge und bemäkelte die unfertigen Arbeiten. Katalogisiert ist seine Sammlung bis heute nicht ganz – sie war zu unkoordiniert und wurde in den Jahren vor seinem Gang ins Exil von seiner Schwester Wilma aufgelöst.

Ähnlich verstreut sind auch die Kessler-Kennerinnen und Kenner. In Berlin gründete sich eine „Harry-Graf-Kessler-Gesellschaft“, einige Forscherinnen und Forscher arbeiten am Deutschen Forum für Kunstgeschichte in Paris, andere am Literaturarchiv Marbach, einer hat eine Professur an der Universität Straßburg. Für die Forschung hat Kessler längst nicht ausgedient, die Edition seiner Tagebücher wurde erst vor zwei Jahren ganz abgeschlossen.

Der rote Graf

In den Tagebüchern kann man die Wandlungen des „Mannes, der alle kannte“, nachvollziehen. Als der Erste Weltkrieg ausbricht, wird Kessler von der allgemeinen Kriegseuphorie erfasst, um sich schließlich um hundertachtzig Grad zu den Novemberrevolutionären umzuwenden. Für die Friedenspolitik, die er dann betreibt, handelt er sich den Spitznamen „der rote Graf“ ein, er tritt für die Deutsche Demokratische Partei an, scheitert.

Als aber die Nationalsozialisten an die Macht kommen, ist der Graf entschieden. Er geht nach Paris, kommt nicht mehr zurück. 1933 war der glühende Europäer um sein Europa gebracht. Kessler stirbt verarmt, von schönen Kirchen träumend, ohne seine Memoiren fertig geschrieben zu haben. Mit 12.000 Seiten Tagebuch überlässt er freilich genug Lernmaterial dazu, was es heißt, vieldimensional zu leben.

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