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■ In Italien gilt die Justiz inzwischen als letzte Bastion der Demokratie. Ob sie aber die Politik sanieren kann, ist fraglich.Wenn die dritte Gewalt zur einzigen wird

Allenfalls von Mafia, Latin Lovers und sonstiger Exotik war in der deutschen Presse zu hören, wenn von Italien die Rede war. Nun steht plötzlich eine Gilde im Rampenlicht, über die man bisher nur selten etwas erfuhr: Staatsanwälte, Ermittlungsrichter und Gerichtspräsidenten – im Land mit dem Sammelbegriff „Magistrati“ versehen. Sie verhaften ganze Regionalregierungen (vergleichbar unseren Landesregierungen), erheben Anklage gegen kleine Bürgermeister wie gegen bisher unumschränkt herrschende Partei- und Fraktionschefs im römischen Parlament, werfen zu Hunderten Manager und Industrielle in den Knast, hebeln – höchst ungewöhnlich im Juristenstand – den vordem ungeniert waltenden Chef des Kassationsgerichtshofes (vergleichbar unserem Bundesgerichtshof) aus und stellen gar die beiden Chefs des Finanzgerichtshofes wegen Amtsmißbrauchs unter Anklage.

Tatsächlich waren Italiens Magistrati schon immer für unzählige Aktionen gut, die in anderen Staaten schlicht unmöglich oder jedenfalls höchst selten waren. Sie sorgten mit Hilfe harter Arbeitsgerichtsurteile für die Humanisierung lebenszerstörender Produktionsmethoden in den Großunternehmen, sie warfen umweltverschmutzende Unternehmer ins Gefängnis, sie brachten Beamte zu Tausenden in den Knast. „Pretori d'assalto“ hießen sie früher, Überfall-Amtsrichter. Viele von ihnen erreichten solches Ansehen, daß sie heute im Parlament sitzen oder bei internationalen Organisationen beschäftigt sind.

Derlei hat Italiens Justiz im eigenen Lande schon immer den Ruf eingberacht, im Grunde die einzige funktionierende Säule der Gewaltenteilung zu sein. Den Ruf, darüber hinaus auch unparteiisch zu sein, verdankt sie im Grunde auch nicht der Tatsache schrankenloser Unparteilichkeit, sondern gerade dem Gegenteil: Weil sie in der Regel lieber dem kleinen Mann und der kleinen Frau recht gab und nicht der großen Firma, weil sie sich immer wieder mit Mächtigen anlegte, sah das Volk die Justiz als eine Art gesellschaftliches Korrektiv gegen die Arroganz der Legislative wie der Exekutive an, und genau das verschaffte ihr den Ruf der „Überparteilichkeit“.

Nur selten wurde deutlich, daß es vorwiegend die unteren Instanzen waren, die hart gegen Mächtige vorgingen – die oberen hoben die Urteile danach wieder auf. Aber da dies in der Regel viele Jahre später geschah (Gerichtsverfahren brauchen mitunter bis zur obersten Instanz zwölf Jahre), regte sich niemand mehr darüber auf. Außerdem bedeuten selbst harte strafrechtliche Sanktionen in Italien, im Unterschied zu vielen anderen Ländern, meistens keinen Ehrverlust oder persönlichen Prestigeverfall. Allenfalls bei Wahlen kann der Betreffende einige Zeit nicht mehr kandidieren.

So waren also ziemlich alle zufrieden: die einfachen Leute, weil die Staatsanwälte und Richter auch mal Große fingen, die Großen, weil sie nach einer gewissen Zeit wieder unebehelligt ihre Geschäfte weiterführen konnten. Die lieben Freunde und Kollegen, die Strohmänner und Statthalter hielten Stellen frei und Plätze warm.

Doch bei der Aktion „Mani pulite“ (Saubere Hände), die im Februar 1992 angelaufen ist und vor allem die milliardenschwere systematische Korruption bei der Vergabe staatlicher Aufträge aufdecken will, liegen die Dinge nun anders. Erstens gingen bei der Aktion Mani pulite die Ermittler von unten nach oben vor, zuerst räucherten sie die Platz- und Statthalter der Mächtigen aus und dann nahmen sie sich die Großkopfeten vor – da ist niemand mehr, der die Plätze freihalten könnte. Zweitens lebt ganz Italien derzeit nicht wie früher unter mehr oder minder erträglichen wirtschaftlichen Bedingungen, sondern macht die schwerste und schwierigste Krise seit Kriegsende durch – sie betrifft nicht nur die Existenz des einzelnen, sondern der gesamten Nation, die mit ihrem scharfen Nord-Süd- Gefälle auseinanderzubrechen droht.

Eine Justizaktion saniert potentielle Sanierer hinweg

Genau da bräuchte man natürlich eine Führungsschicht, die sich ganz und gar der Sanierung widmen könnte, doch genau die fehlt nun fast völlig. Die wenigen noch vorhandenen präsentablen Figuren weigern sich fast durchweg, in die Arena steigen.

Die Skandale haben, über ein kräftiges Maß an Mißmanagement der Konzerne hinaus, das Land schlichtweg lahmgelegt. Und das betrifft neben den Parteien und den Trusts auch die gesamte Kultur – hier häufen sich die Korruptionsfälle genauso und betreffen Personen und Zirkel höchster Reputation, vom „Teatro piccolo“ des Giorgio Strehler über den staatlichen Rundfunk RAI bis zum nationalen Leichtathletikverband und den Ausrichtern der Fußball-WM von 1990.

Wo aber Exekutive und Legislative, zwei der drei Säulen der Demokratie, paralysiert sind und gleichzeitig keine aufbruchsbereite Kultur besteht, wird der Einäugige schnell zum Herrscher der Blinden: Die Justiz wird zum fast mythischen Hoffnungsträger und derzeit fast schon mit der Flinte in der Hand verteidigt, gleichgültig, was sie tut.

Als Bettino Craxi, bis zum vergangenen Wochenende noch Chef der Sozialistischen Partei, im letzten Sommer in altbewährter Manier Frontalangriffe gegen die Mailänder Ermittler startete und deren persönliche Integrität bezweifelte, brach in der Presse und im Volk ein regelrechter Orkan gegen ihn los: „Craxi sollte kapieren“, schrieb der landesweit geschätzte Leitartikler Giorgio Bocca, „daß es den Bürgern völlig wurscht ist, ob der Staatsanwalt Di Pietro irgendwo eine Geliebte hat, wenn sich gleichzeitig ein Abgrund an politischer Fäulnis, an hemmungsloser Bereicherung und absolutistischer Machthungrigkeit auftut und der Staatsanwalt diese Auswüchse bekämpft“.

Dennoch birgt gerade die extreme Hochschätzung der Justiz große Gefahren. Es ist noch nie gut gegangen, wenn in einem Land das System von check and balances, wie die USA das demokratische System der Gewaltenteilung getauft haben, außer Tritt geraten ist. Gerade die USA sind ein Beispiel dafür: Die große Popularität der Nachkriegspräsidenten, von Truman über Eisenhower bis Kennedy, hatte dem höchsten Staatsamt eine derart unumschränkte Machtfülle verschafft, daß sich ein Richard Nixon dann über alle Gesetze erhaben dünken konnte. Seine Absetzung durch das Parlament bedeutete dann aber nicht nur die Entfernung eines Politgangsters, sondern zog auch eine drastische Beschränkung der mit dem Amt verbundenen Macht nach sich: Senat und Repräsentantenhaus konnten fortan nahezu jede, auch vernünftige Initiative des Präsidenten blockieren (was dieser nur noch mit seinem einzig ihm verblieben Mittel, dem Veto kontern konnte). Dies führte dazu, daß immer häufiger die Gerichte, insbesondere die allerhöchsten, angerufen wurden, die dann nolens volens in die praktische Politik eingreifen mußten – eine Erscheinung, die sich im übrigen auch in anderen Staaten, in denen sich Legislative und Exekutive im Dauerclinch befinden, herausbildet, so auch in der Bundesrepublik.

Daß der Kampf der „demokratischen Grundsäulen“ in Italien wesentlich gefährlichere Aspekte in sich birgt als analoge Vorgänge in den USA und in Deutschland, hängt mit einem schwerwiegenden Unterschied zusammen: In anderen Ländern legen sich die Komponenten der geteilten Gewalt jeweils aus einer Position der Stärke (zumindest gilt dies für eine der beiden Kräfte) miteinander an. In Italien aber sind heute Exekutive wie Legislative nicht nur in einer Position der Schwäche, sondern weitgehend überhaupt ausgeschaltet.

Gegen knapp 20 Prozent der derzeitigen Parlamentarier wird zur Zeit wegen unmittelbarer oder mittelbarer Verstrickung in Korruptionsskandale ermittelt, betroffen sind die Parteien der Regierungskoalition wie auch die größte Oppositionspartei, die aus der Kommunistischen Partei hervorgegangene PDS. Die Regierung Amato – oder die Administration Amato, wie die amerikanische Diktion den italienischen Fall treffender bezeichnet – versucht gerade noch den Haushaltsverfall zu stoppen, mehr hat sie nicht mehr auf dem Programm.

Die Versuchung der Justiz, Politik zu machen

So entsteht eine große Versuchung für die Staatsanwälte und Richter: Sie können mit der Stoßrichtung ihrer Ermittlungen, mit der Plazierung ihrer Festnahmen, mit der Andeutung anstehender Verfahren regelrecht Politik betreiben. Und einige der mittlerweile 500 Untersuchungsrichter, die über den Pool von Mailand um Staatsanwalt Di Pietro hinaus im Zusammenhang mit der Aktion Mani pulite wegen aktiver und passiver Korruption, Erpressung und anderer Delikte ermitteln, scheinen schon Freude daran zu finden. Jedenfalls erweckt die zeitliche und örtliche Plazierung bestimmter Ermittlungsverfahren und Enthüllungen immer häufiger den Verdacht, hier werde auch in politische Entscheidungsprozesse, etwa die Bildung bestimmter Koalitionen und Neuwahlen, eingegriffen.

Und nicht zu vergessen: Die Justiz hat mit Legislative wie Exekutive sowieso noch ein Hühnchen zu rupfen. Sie hat nicht vergessen, daß sie von Regierung und Parlament mit einem neuen Disziplinarrecht an die politische Leine genommen wurde. Die Idee stammte damals von Bettino Craxi, der so schon frühzeitig Ermittlungen gegen seine Partei verhindern wollte. Nicht ganz auszuschließen, daß Mani pulite auch ein Stück „Mani libere“ ist – der Versuch der Justiz, sich die Politiker vom Hals zu halten und sich für alle Zeiten unantastbar zu machen. Werner Raith

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