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Immer mehr Bäckern bleibt die Luft weg

Berufsbedingte Allergien sind in den letzten Jahren drastisch angestiegen/ 800 Bäcker erkranken in der Bundesrepublik jährlich an Bäckerasthma/ Erhebliche Mängel in der Prävention/ Die beste Therapie ist immer noch die Allergenkarenz  ■ Von Hans-Jürgen Serwe

Berufsbedingte Allergien nehmen dramatisch zu: Während 1978 nur sieben Prozent als berufsbedingte Allergien anerkannt wurden, stieg die Rate 1989 auf das Dreifache (22 Prozent). Die Zahl der allergisch bedingten Hauterkrankungen erhöhte sich bundesweit von 10.001 (1977) auf 18.444 (1989) angezeigter Fälle. Bei den obstruktiven Atemwegserkrankungen ist ein Zuwachs von von 831 (1977) auf 4.868 (1989) zu verzeichnen. Diese alarmierenden Zahlen waren Anlaß für das nordrhein- westfälische Ministerium für Arbeit, Gesundheit und Soziales (MAGS) im November in Essen „Allergien im Beruf“ unter die Lupe zu nehmen.

Allergische Reaktionen sind überschießende Immunantworten des Körpers. Das Immunsystem reagiert stärker, als der Gefährlichkeit des eindringenden Fremdstoffs — des „Antigens“ — angemessen wäre. Allergene, also Allergie auslösende Antigene, sind zumeist natürlichen Ursprungs: Blütenpollen, Tierhaare, Schimmelpilzsporen und — mit deutlich zunehmender Tendenz — Berufsallergene wie Mehlstäube sowie eine wachsende Zahl bei industriellen Prozessen freigesetzten oder in den Produkten selbst enthaltenen Chemikalien. Voraussetzung für das Entstehen einer Allergie ist die Sensibilisierung. Bei diesem auf zellulärer Ebene noch immer nicht ganz erklärbarem Vorgang steht am Anfang das Auftreffen des Antigens auf die Schleimhaut und nach einemkomplizierten Informationsaustausch zwischen verschiedenen Zellpopulationen die Produktion von spezifischen IgE-Antikörpern durch Plasmazellen am Ende. Die IgE-Antikörper heften sich mit ihrem freien Ende an gewebs- und schleimhautständige Mastzellen, die eigentlichen Effektorzellen des Entzündungsvorgangs. Treffen nun Allergene auf den „IgE-Mantel“ der Mastzellen, werden sie dort nach dem Schlüssel-Schloß-Prinzip fixiert und führen zu einer Freisetzung von entzündungsfördernden Substanzen, vor allem des Histamins. Die Entzündungsmediatoren bewirken dann die Symptome, die wir als allergisches Geschehen kennen: Nasenlaufen, Augenbrennen, Ödeme, Hautausschlag bis hin zum schweren allergischen Asthma. Allergien sind nach diesem Konzept also von außen angestoßene deregulierte Immunvorgänge, die auf Dauer zu einer Selbstschädigung des Organismus führen können. Bei einer sensibilisierten Person reichen im Extremfall wenige Moleküle um einen lebensbedrohlichen Zustand auszulösen. Dieses aus den Erkenntnissen der klinischen Allergologie entwickelte „Ein-Molekül-Konzept“ der Auslösung allergischer Symptome wurde inzwischen erweitert. Vor allem aus arbeitsmedizinischer Sicht mehren sich die Hinweise, daß bei bestimmten aggressiven Allergenen nicht nur bei Atopikern mit einer Sensibilisierung zu rechnen ist, sondern jedes Individuum bei entsprechend langer und intensiver Exposition sensibilisierbar ist. Dabei kann es sich nicht ausschließlich um chemische — wie Formaldehyd oder die Isocyanate —, sondern auch um natürliche Antigene, wie Mehlstäube oder Baumwollbestandteile handeln.

Die Zunahme der berufsbedingten Allergien kann beim derzeitigen Wissensstand mehrere Ursachen haben. Einerseits spielt der Abbau der bei den Berufskrankheiten hohen Dunkelziffer durch die für das Thema Allergien inzwischen vermehrt sensibilisierten Ärzte wie auch Patienten eine Rolle. Für Reinhold Konstanty — beim DGB-Bundesvorstand für den Bereich Umwelt und Gesundheit zuständig — liegen die Ursachen im „geringen Stellenwert des Arbeitsschutzes in Politik und Gesellschaft und der Geheimhaltungspolitik der chemischen Industrie“. Noch kaum abschätzbar ist der Einfluß einer großen Zahl von Chemikalien in allen Bereichen der Industrie und des Handwerks: 100.000 Stoffe allein im europäischen Altstoffregister, 6.000 bis 7.000 Stoffe mit wirtschaftlicher Bedeutung in der Bundesrepublik in mehr als einer Million von der Industrie in ihrer Zusammensetzung meist nicht angegebenen Zubereitungen. Weder ihre sensibilisierenden Eigenschaften noch die synergistischen Effekte des gleichzeitigen Einwirkens verschiedener Substanzen sind bekannt.

Schott, Gewerbearzt und Allergologe aus Berlin verwies darauf, daß bundesweit allein 800 Bäcker pro Jahr am Bäckerasthma neu erkranken. Seine Untersuchungen in knapp 100 Berliner Bäckereien hätten ergeben, daß dort in der Primärprävention noch erhebliche Mängel auftreten. Neben der unzureichenden Belüftung sei vor allem festzustellen, daß noch immer die Rührwerke vielfach nicht gedeckelt seien und damit eine erhöhte Expositon gegenüber den Mehlstäuben automatisch gegeben sei. John aus Osnabrück wies darauf hin, daß das Bäckerasthma seit den fünfziger Jahren immunologisch eine komplette Wandlung durchgemacht habe. Bis zu ihrem Verbot als Zusatzmittel in Backwaren 1956, wären die Persulfate (Zusatzstoffe) die potentesten Allergene im Bäckerhandwerk gewesen, danach kommen erst die Mehlstäube. Leider seien die Persulfate in der Folgezeit aber ungehindert „ins Friseurgewerbe gerutscht“.

Gegen die Vorwürfe Betroffener hatte der einzige Industrievertreter aus der Kosmetikbranche, Feistkorn von der Wella AG, einen schweren Stand. Zwar betonte auch er die ungelöste Problematik der allergenen Potenz einzelner Inhaltsstoffe von Kosmetika, für die trotz intensiver Forschung die Industrie bisher kein Ersatz gefunden hätte. Aber die Verantwortung für die Einhaltung von Schutzmaßnahmen gegen eine Sensibilisierung schob er ausschließlich den Arbeitnehmern zu. Sein Unternehmen lege jeder Packung grundsätzlich einen Satz Handschuhe bei, nur leider kämen diese in der Praxis so gut wie nie zur Anwendung.

Die Berufsgenossenschaften stehen diesen Fakten relativ hilflos gegenüber. Denn lediglich die Hälfte der Arbeitnehmer — in den zehn Prozent der Mittel- und Großbetriebe — unterliegen überhaupt einer betriebsärztlichen Überwachung. In den übrigen 90 Prozent der Betriebe gibt es kaum Beurteilungsmöglichkeiten des Gesundheitszustands der Arbeitnehmer und nur geringe Möglichkeiten, kontinuierlich und effektiv Einfluß auf die arbeitshygienischen Standards zunehmen. „Gewerbeaufsicht und Berufsgenossenschaften“ — resigniert einer ihrer nordrhein-westfälischen Vertreter — „rennen der Industrie bisher immer hinterher.“ Lücken existieren auch im Umweltrecht. Bei der letzten Novellierung des Chemikaliengesetzes wurde zwar das Gefährlichkeitsmerkmal „sensibilisierend“ übernommen, jedoch fehlt eine generelle Deklarationspflicht für dieses Gefahrenmerkmal. Aber auch eine Deklarationspflicht, wie die Zubereitungsrichtlinie der EG sie vorsieht — und deren zügige Umsetzung in nationales Recht Staatssekretär Bodenbender seitens der Landesregierung vom Bund forderte — greift noch in vielen Fällen daneben. Denn die EG- Richtlinie sieht eine Deklarationspflicht nur für sensibilisierende Stoffe ab einem Gewichtsprozent vor, für Stoffgruppen wie die Isocyanate mit sensibilisierend wirkenden Konzentrationen im ppm-Bereich ein um Dimensionen zu hoher Wert.

Die beste Therapie für allergische Erkrankungen besteht immer noch in der Allergenkarenz, also dem Meiden des Allergens, was sowohl für die Induktionsphase als auch für das Auslösen der akuten Erkrankung zutrifft. Darüber waren sich die Beteiligten weitgehend einig, nur in der gewählten Strategie zur Erreichung dieses Ziels unterschieden sich die Positionen erheblich. Eine vorbeugende Selektion allergiegefährdeter Arbeitnehmer durch Genomanalyse stieß auf weitgehende Ablehnung der Tagungsteilnehmer. Eine prinzipielle Umgestaltung aller Arbeitsplätze, damit keinerlei Gesundheitsgefahren für die Arbeitnehmer zu erwarten seien, wurde von der Gewerkschaft reichlich abstrakt gefordert, denn zu Verbotsforderungen bestimmter Stoffgruppen mit höchster allergischer Potenz hat man sich noch nicht durchgerungen.

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