piwik no script img

Imagepflege der StädteWer will Kulturhauptstadt werden?

Obwohl ein Kulturhauptstadtjahr Millionen kostet, ist der Titel „Europäische Kulturhauptstadt“ begehrt. Unser Autor fragt warum.

Die Riverside von Liverpool mit dem neuen Kunstmuseun Foto: imago/Arcaid Images

Die „Royal Iris of the Mersey“ ist noch ganz die Alte: Schwarz, weißer Aufbau, legt sie an der neuen Weltkulturerbe-Waterfront an, pendelt jahrein, jahraus zwischen Birkenhead und Liverpool. Berühmt wurde die „Ferry ’cross the Mersey“ mit dem gleichnamigen Lied der Gruppe Gerry and the Pacemakers Anfang der 60er Jahre.

Allmählich nähert sich die Fähre über den Mersey der neuen Liverpooler Skyline. Aus dem Dunst des Stroms erheben sich die beiden Türme des Royal Liver Buildings, des Wahrzeichens der Stadt. Zur Glanzzeit des damals wichtigsten britischen Hafens verewigten sich hier große Unternehmen mit Hochhäusern im viktorianischen und edwardianischen Stil. Zu ihren Füßen baut Liverpool an seiner Zukunft: das neue städtische Museum in einem futuristischen Neubau, der glitzernde schwarze, angeschnittene Würfel mit der Open Eye Gallery und viele weitere Neuerungen. Die Ernennung Liverpools zur Europäischen Kulturhauptstadt 2008 hat einen Bauboom ausgelöst und die Stadt grundlegend verändert.

Paul Thompson arbeitet in der kürzlich eröffneten British Music Experience. Das multimediale Museum erzählt die Geschichte der britischen Rock- und Popmusik. Der lockere Typ Mitte 50 erinnert sich an die frühen 2000er Jahre, als die meisten Liverpooler die Kandidatur für den Titel Europäische Kulturhauptstadt 2008 für einen Witz hielten.

Liverpool war nach dem Niedergang der Werften und des Hafens das Armenhaus Englands. Anfang der 80er Jahre berichteten Medien in ganz Europa von den Aufständen im Stadtteil Toxteth, damals eines der finstersten Viertel Großbritanniens. Junge Leute wehrten sich gegen Massenarbeitslosigkeit, Armut und den Verfall ganzer Stadtteile. Die stramm konservative Regierungschefin Margret Thatcher hatte der britischen Wirtschaft eine neoliberale Rosskur verpasst, die die meisten alten Industriebetriebe in der Arbeiterstadt Liverpool nicht überlebten.

Das Beispiel Liverpool

„Es hat eine Weile gedauert, bis sich nach und nach die ganze Stadt hinter der Idee einer Kulturhauptstadtbewerbung versammelte“, erzählt Thompsons Chef Kevin Mac Manus. Politik, Verwaltung und der Bürgermeister waren von der Idee überzeugt.

Kulturhauptstädte

Finanzierung

Die EU zahlt den Kulturhauptstädten einen Zuschuss von 1,5 Millionen Euro. Die Budgets der bisherigen Kulturhauptstädte variieren daher nach ihrer Finanzkraft zwischen unter 10 bis zu fast 100 Millionen Euro. Kosten, die viele von ihnen über die Ausgaben der Besucher einspielen. kultur.creative-europe-desk.de/foerderung/sondermassnahmen/kulturhauptstadt-europas.html

Kulturhauptstädte

Bis 2033 hat die EU die Reihenfolge der Länder festgelegt. Deutschland ist nach 1999 und 2010 wieder im Jahr 2025 an der Reihe.

Mac Manus war damals Teil des Bewerbungsteams. Niemand habe geahnt, welchen Schub dieser Prozess der Stadt bringen würde. Den Zuschlag habe die Außenseiterkandidatin Liverpool auch bekommen, „weil wir einen großen Teil der Stadtgesellschaft mitnehmen konnten“. Monatelang ging er mit seinen Kollegen in die Gemeindezentren der Stadtteile, in Vereine und Bürgerinitiativen, um sie von den Plänen zu überzeugen.

Heute, gut zehn Jahre nach dem Kulturhauptstadtjahr, ist Liverpool eines der gefragtesten Städtereiseziele in England und nach London das kreativste Pflaster des Landes. Mac Manus erinnert sich an die ersten Investoren, die sich für Liverpool interessierten, nachdem erste positive Medienberichte über die Stadt erschienen waren. Die Liverpooler begannen nach Jahren des Niedergangs wieder, an sich und ihre Stadt zu glauben.

„Lovely“, wunderbar, finden drei ältere Frauen in der Fußgängerzone ihre Stadt heute. Man sehe heute fast mehr Touristen als Einheimische auf der Straße.

Stimmen wie die des Taxifahrers Stephen sind selten. Der Mittfünfziger ärgert sich über das viele Geld, das die Kulturhauptstadt gekostet hat, umgerechnet mehr als 70 Millionen Euro: Damit hätte man besser sichere Kinderspielplätze in benachteiligten Vierteln gebaut oder Angebote für ältere Menschen geschaffen, schimpft er. In den armen Stadtteilen habe sich nichts verändert.

Selbst das Tate Modern kam

Auf einer ehemaligen Industriebrache in der Innenstadt entstand zum Kulturhauptstadtjahr Liverpool One. Das Einkaufszentrum zählt heute zu den besucherstärksten im ganzen Land. Busseweise kommen die Einkaufstouristen von weit her. Nicht nur Charlotte Martin ist froh, dass sie jetzt nicht mehr nach Manchester oder Birmingham fahren muss, wenn sie „vernünftige Klamotten“ braucht.

Der Wandel ihrer Heimatstadt habe zahlreiche neue Jobs geschaffen. Charlotte, Arbeitertochter aus Birkenhead auf der anderen Seite des Flusses, führt Besucher durch das Beatles-Museum am ehemaligen Hafen. Nebenbei hat sie sich als Touristenführerin selbstständig gemacht. „Die Kulturhauptstadt hat Liverpool zum Fluss hin geöffnet“, erzählt die 43-Jährige begeistert. „Der Strand wurde neu gemacht, das Albert Dock wurde zum Teil des Weltkulturerbes und zur Fußgängerzone.“

Rechtzeitig zum Kulturhauptstadtjahr 2008 eröffnete die Londoner Tate Modern in einem der dunkelroten Backsteinlagerhäuser ihre Filiale, heute eines der besucherstärksten Kunstmuseen Englands. Hinzu kamen in den letzten Jahren der hypermoderne Neubau des Stadtmuseums und die British Music Experience im ehemaligen Hauptsitz der Reederei Cunard Line, Eigentümerin der 1912 gesunkenen Titanic.

Seit 1985 ernennt die Europäische Union Kulturhauptstädte Europas. War es anfangs nur eine pro Jahr sind es seit dem Beitritt der ostmitteleuropäischen Länder jeweils zwei, eine aus den „alten“ und eine aus den „neuen“ Mitgliedsstaaten. Ziel der Ernennung ist es, „die Vielfalt des kulturellen Reichtums in Europa“ zu zeigen. So will die EU-Kommission

Der Wandel von Linz

Während Liverpool wie kaum eine andere Stadt in Europa vom Kulturhauptstadt-Titel profitiert hat, fällt die Bilanz in Linz gemischt aus. 2009 trug die oberösterreichische Landeshauptstadt den Titel. „Linz reimt sich auf Provinz“, spotteten einst Wiener und Münchner über das Städtchen an der Donau mit knapp 200.000 Einwohnern. „In Linz, da stinkt’“, hieß es auch über die Industriemetropole.

Es hat lange gedauert, bis sich die ganze Stadt hinter der Idee Kulturhauptstadt versammelte

Mac Manus, British Museum Experience

Jahrzehntelang produzierten die von den Nazis als Hermann-Göring-Werke gegründeten Vereinigten Österreichischen Eisen- und Stahlwerke (VÖEST) viele Jobs und schlechte Luft. Noch heute ist das in voest­alpine AG umbenannte Unternehmen mit gut 12 Milliarden Euro Jahresumsatz und mehr als 50.000 Beschäftigten wichtigster Arbeitgeber der Stadt.

Doch: „Linz hat den Turn­around weg von der proletarischen Stahlstadt geschafft“, urteilt Klemens Pilsl. Der intellektuelle Enddreißiger spricht für die Kulturplattform KUPF, zu der sich rund 150 oberösterreichische Kulturinitiativen zusammengeschlossen haben.

Als sich Linz um den Kulturhauptstadt-Titel mit einem Budget von rund 70 Millionen Euro bewarb, war Pilsl wie viele freie Kulturschaffende skeptisch. Schon die Vorbereitung auf das Kulturhauptstadtjahr hat Linz verändert. Seine Heimatstadt versuche seitdem, „sich über Kreativwirtschaft und ähnliche Schlagwörter neu zu erfinden“. Die Linzerinnen und Linzer seien selbstbewusster geworden, stolz auf ihre Stadt. Und er selbst hat „gelernt, mit scheinbar mächtigen Politikern auf Augenhöhe zu verhandeln“.

Was bringt Erfolg?

„Kulturhauptstadt“ hält der eloquente Mann „für weder gut noch schlecht. Es kommt darauf an, was man daraus macht“. Der Titel sei ein Mittel, um Städte zu entwickeln und zu positionieren. Freien Kunst- und Kulturschaffende empfiehlt er, laut zu sein, sich wichtig zu machen, damit sie gehört werden.

In Linz wie in allen bisherigen europäischen Kulturhauptstädten beklagen die kleinen, freien Kulturinitiativen und lokalen Künstler, dass sie im offiziellen und teuren Programm zu wenig Berücksichtigung fänden.

Diese Kritik lässt Ulrich Fuchs nicht gelten. Als stellvertretender Intendant hat er Linz 2009 mitgestaltet. Zahlreiche Initiativen hätten zum Programm beigetragen. Letztlich sei jedoch der Intendant der ausgebildete Profi, der über die Inhalte entscheide.

Fuchs wechselte von Linz zur Europäischen Kulturhauptstadt Marseille-Provence 2013 und wurde dann Mitglied der Jury bei der Europäischen Kommission in Brüssel, die die Bewerberstädte auswählt. In ihrem Kriterienkatalog habe die EU festgelegt, dass die Bewerberstädte das Programm gemeinsam mit den Kulturschaffenden vor Ort in einem Prozess von unten nach oben entwickeln. Außerdem müssen sie einen Plan für eine nachhaltige Stadtentwicklung über das Kulturhauptstadtjahr hinaus vorlegen.

Fuchs, der damals an der Uni Bremen lehrte, war in den 2000ern für die Bewerbung der Hansestadt um den Titel 2010 verantwortlich. In Linz sei unter seiner Regie und der des umstrittenen Intendanten Martin Heller vieles gelungen. Fuchs beklagt jedoch, dass die Linzer Stadt- und Kulturpolitik nach 2009 in den alten provinziellen Trott zurückverfallen sei.

Den Erfolg einer Europäischen Kulturhauptstadt misst der Intendant und Dramaturg an vielen Faktoren: Infrastruktur wie neue Museen oder Theater, mehr Städtetouristen oder weichere Faktoren wie eine Stärkung der örtlichen Kulturszene, die sich wie in Linz professionalisiert und lernt, politische Entscheidungen mitzugestalten.

Das Problem: Manche Kulturhauptstädte brennen ein großes teures Strohfeuer ab, von dem wenige Jahre später nur noch Schulden zurückbleiben. Andere wiederum überlegen sich genau, wie ihre Stadt fünf oder zehn Jahre danach aussehen soll. Dazu gehört die Antwort auf die Frage, wer für den Unterhalt neu geschaffener Kultureinrichtungen aufkommen wird.

Die Einwohner begeistern

Das friesische Leeuwarden im abgelegenen Nordwesten der Niederlande setzte in seinem Kulturhauptstadtjahr 2018 wie einst Liverpool frühzeitig auf Bürgerbeteiligung. Die 100.000-Einwohner-Stadt hatte sich mit dem Konzept der offenen friesischen Gemeinschaft, der Mienskip im Bewerbungsverfahren gegen mächtige Konkurrenten wie Den Haag oder Utrecht durchgesetzt. Thema ist neben dem starken und weltoffenen friesischen Gemeinschaftsgeist die Natur mit unseren Lebensgrundlagen.

Das Besucherzentrum am Bahnhof empfängt die Gäste mit einem Nachbau der Wattenmeerlandschaft. Von hölzernen Stegen aus blickt man auf Videoinstallationen. Strandhafer wiegt sich im Wind, dahinter Sand, Schlick und der weite Himmel. Aus Lautsprechern klingen das Rauschen der Nordsee, die Rufe der Wattvögel und das Blubbern des sich zurückziehenden Wassers.

Verschiedene Projekte beschäftigen sich mit der Bedrohung der Zugvögel durch die intensive Landwirtschaft auch in Friesland, mit Wegen zu einem nachhaltigeren Lebensstil, aber auch mit vom Aussterben bedrohten Sprachen wie dem Friesischen. Ausstellung und Groß­er­eignisse locken Besucher aus den ganzen Niederlanden und den Nachbarstaaten an.

Der Schwerpunkt liegt jedoch auf lokalen Projekten, die die Einheimischen mitgestalten. Bürgermeister Ferd Crone freut sich über die rege Beteiligung der Bürgerinnen und Bürger. Die Kulturhauptstadtmacher hätten Profis und engagierte Bürgerinnen und Bürger geschickt zusammengebracht.

30.000 der etwa 650.000 Friesinnen und Friesen haben die Kulturhauptstadt-Projekte mitgestaltet: Konzerte, eine begehbare Dokumentation zum Wandel der Lebensräume, eine Mitmachausstellung über die Vielfalt der Sprachen und viele Details, die das Städtchen mit ironischer Leichtigkeit und Lebensfreude füllen: Im Prinzengarten schnarcht eine Parkbank, ein paar Meter weiter zaubert ein glucksender Baum Besuchern ein Lächeln ins Gesicht.

Ein Europäisches Kulturhauptstadtjahr kann eine Stadt nachhaltig zum Positiven verändern, wenn sich die Verantwortlichen in Politik und Wirtschaft das Thema zu eigen machen und die örtliche Bevölkerung über kurzlebige Events hinaus dafür begeistern. In Leeuwarden hat das gut funktioniert.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

Mehr zum Thema

0 Kommentare

  • Noch keine Kommentare vorhanden.
    Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!