Im Wandel, mittendrin XI : Die Abkehr vom Egoismus
Der Sozialwissenschaftler Daniel Loick macht Change anhand zweier Szenen aus der Mitte unserer Gesellschaft greifbar.
Von DANIEL LOICK
Als ich jung war, wurde ich wegen meiner langen Haare von besorgten Bürgern vom örtlichen Schützenfest gejagt. Ich bekam das zu hören, was alle „alternativ“ aussehenden Jugendlichen in ihrem Leben mindestens einmal zu hören bekommen: Ich sei „asozial“.
Letztes Jahr, zum Höhepunkt der Coronapandemie, wurde ich Zeuge einer Begegnung zwischen einer Coronaleugnerin und einem Punk. Die Coronaleugnerin trug eine Gucci-Tasche an ihrem Arm und war war offensichtlich reich. Der Punk hatte rote Haare, zerrissene Jeans und war sehr jung.
Als die Frau sich in der vollen Innenstadt nah an ihm vorbeidrängelte, forderte er sie auf, einen Mund-Nasen-Schutz zu tragen. Die Frau reagierte aggressiv: Das sei jawohl ihre Sache, sie lasse sich von niemandem etwas vorschreiben. Der Punk erwiderte, das gefährde die anderen und das Verhalten der Frau sei asozial.
In der ersten Szene wird dieser Begriff konservativ verwendet. Er wird von Mächtigen eingesetzt, um sich gegen jede Form der Abweichung abzuschotten. In der zweiten Szene ist es umgekehrt. Hier wird er gerade von einer abweichenden Gruppe genutzt, um eine Gesellschaftlichkeit zu verteidigen, in der auch die am meisten Gefährdeten sicher sind.
Wie Gemeinschaft und Gesellschaft sich wandeln sollte
Es ist die Vorstellung, man habe ein Anrecht darauf, Schwächeren rücksichtslos zu schaden, die als Bedrohung von Gesellschaftlichkeit wahrgenommen wird. Das heißt aber, dass dieses „Soziale“ nicht mit der bestehenden Normalität zusammenfällt, sondern gegen sie gerichtet ist. Der Punk fordert eine Form von Gemeinschaft ein, die noch nicht existiert.
Die Vertreter*innen der herrschenden Ordnung müssen ihre Eigeninteressen heute nicht mehr umständlich als Gemeinschaftsinteressen ausgeben. Auf der anderen Seite liegt auf der Hand, dass eine echte Gemeinschaft konfrontativ und polemisch gegen diese Ordnung gerichtet ist – gegen die ökonomische Ungleichheit, auf der sie basiert und den individuellen Egoismus, den sie erzeugt, und die Polizei, die sie absichert. Das ist Wandel.
Daniel Loick ist Philosoph und Sozialwissenschaftler. Er lehrt Political and Social Philosophy an der Universität Amsterdam.