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Im Verborgenen weiterleben

An der Humboldt-Universität zeigt eine Ausstellung aus Charkiw die Folgen des russischen Imperialismus in der Literatur der Ukraine

Von Alexander Kloß

Das Arrangement, das seit Mittwoch das Foyer des Hauptgebäudes der ­Humboldt-Universität einnimmt, ist schlicht. Ein halbes Dutzend wie ­Paravents gefaltete Aufsteller füllen eine Hälfte der Empfangshalle aus. In breiten aufgedruckten Lettern erzählen sie eine Geschichte, die sich in großen Teilen nur bruchstückhaft rekonstruieren lässt: die Geschichte der ukrainischen Literatur.

„Antitext“ ist der Titel der Wander­ausstellung des Literaturmuseums Charkiw, die derzeit in Berlin gastiert. Im Fokus steht ein Thema, dessen ­Aktualität an nichts eingebüßt hat: die ­Selbst­behauptung gegenüber ­Russland.

Nach einer kurzen Blüte ukrainischer Kunst in der frühen Sowjetunion fiel ab den späten 1920er Jahren die eigene Kulturszene der stalinistischen Säuberung zum Opfer. Viele Kulturschaffende wurden ermordet, verhungerten im Holodomor oder im Gulag. Auf Ukrainisch spricht man auch von der „Hingerichteten Renaissance“. Der Antitext beschreibt in diesem Zusammenhang all das, was verborgen bleibt – entweder weil es im Zuge der Zensur vernichtet wurde, oder weil es vor der Zerstörung gerettet werden konnte.

„Antitext“ zeigt keine Werke, sondern die Geschichten, die zu ihrem Verschwinden führten

Die Schau mischt die historische Aufarbeitung dieser leidvollen Historie mit Fallbeispielen von Werken und Autor*innen, die dieser Tilgung zum Opfer fielen. So zum Beispiel der Dramatiker Mykola Kulisch und der Novellenschreiber Hryhorij Kosynka. Beide wurden 1934 verhaftet und ihre Manuskripte beschlagnahmt. Bis heute gelten sie als verschollen. Um diesen Verlust deutlich zu machen, zeigt „Antitext“ keine Werke, sondern die Geschichten, die zu ihrem Verschwinden führten – und lässt die so entstandenen Lücken für sich sprechen. Ins Auge stechen dabei immer wieder einzelne ukrainische Worte in roter Farbe wie „Widerstand“, „Wille“ oder „Ge­dächtnis“, die wie Graffitis fast schon trotzig die Ausstellungstexte durchlöchern.

Das Literaturmuseum Charkiw wurde 1988 gegründet, um sich gegen die kulturellen Repressionen der Sowjetunion zu wehren. Zu Beginn des russischen Überfalls auf die Ukraine musste die Sammlung einst verbotener Texte erneut in den Untergrund wandern, um sie vor der Bombardierung der Stadt zu retten. In Berlin ist die „Antitext“-Ausstellung noch bis zum fünften Juni zu sehen, danach wandert sie nach Leipzig.

„Antitext“: Humboldt-Universität, Hauptgebäude, Foyer. Bis 5. Juni

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