■ Im Streit um Stephan Hermlins Leben geht es ums Ganze: Wahrheiten und Dichtungen
Es gibt den Typ des Verfolgers. Es gibt den Typ des Opfers. Hier heißen sie im ersten Fall Karl Corino; im zweiten Stephan Hermlin. Der Verfolger ist ein tüchtiger Germanist und Publizist – das Opfer Schriftsteller; der Verfolger vehementer Kritiker der DDR – das Opfer ein deutscher Jude und Kommunist, der nach 1945 eine bedeutende Karriere in der DDR machte. Corino hat sich als detektivisch versierter Literaturforscher Respekt erworben, Hermlin als zweifach loyaler Parteigänger mit den Kommunisten und ihren beinahe Opfern: zum Beispiel Wolf Biermann.
Für Opfer und Täter hält die deutsche Sprache Rollenprosa aus einer langen Geschichte bereit. So können sich die aktuellen Akteure daraus bedienen, wenn sie nun daran gehen, ihre Reden aufzusagen und diese Reden ineinander zu flechten, als würde es sich wirklich um Rede und Gegenrede handeln mit der Chance, daß am Ende ein wenig mehr Wahrheit als vorher am Tage liegt. An diese Wahrheit glauben beide. Corino, wenn er in der Zeit einer autobiographischen Dichtung Hermlins „raffinierte syntaktische Mittel“ und Manipulationen an „Ort und Zeit“ vorwirft; Hermlin, wenn er im Spiegel zur Rechtfertigung autobiographischer Erfindungen beteuert, er habe sich „verstellen“ müssen, um zu überleben. Recht haben beide – und auch nicht: Corino, wenn er behauptet, Hermlin habe sein Leben zum heldischen, kommunistischen Gesamtkunstwerk geschönt; Hermlin, wenn er auf die wirkliche Verfolgung von Juden und Kommunisten hinweist und auf die eigene Form dichterischer Wirklichkeit.
Was jeweils für sich richtig zu sein scheint, wird insgesamt den Menschen und Situationen kaum gerecht. Wer dürfte es einem jungen Juden in den dreißiger Jahren verargen, wenn er auf die Kommunisten setzt und ihnen ein Leben lang vergilt, was er von einzelnen unter ihnen an Solidarität erfahren hat? Etwas weniger auftrumpfende Rechthaberei und Gehässigkeit, Herr Corino, und etwas mehr Menschenfreundlichkeit, und die Aufklärung wäre sinnvoller. Und auf der anderen Seite, verehrter Herr Hermlin: Wer war denn mit sich selbst je identisch und in den Visionen von sich selbst nicht immer am liebsten ein anderer und besserer? Ihre Leser werden Sie kaum weniger schätzen, wenn sich herausstellt, daß die Bilder, die Sie von sich haben, schöner sind, als das Leben sie wahrhaben wollte und will. Um so trauriger für das Leben. Ob Ihre Träume zu guter Letzt nicht doch wahrer sind als ihre Entzauberungen... wer weiß? Über Wahrheit und Lüge von Dichtern sollte man jedenfalls lieber im außermoralischen Sinne reden. Gert Mattenklott
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