Im Reich der Scheiben

Die Künstlerin Annette Kisling hat Schaufenster in Paris fotografiert und stellt die Resultate in der Galerie Kamm aus. Überraschend: die vielfältigen Spiegeleffekte

Paris atmet immer noch den Geist des Flaneurs. Dabei sind Charles Baudelaire, Marcel Proust und Walter Benjamin längst nicht mehr auf den Promenaden unterwegs. Baron Haussmann hat es geschafft, der Stadt den immerwährenden Stempel des großbürgerlichen 19. Jahrhunderts aufzudrücken. Besonders nachhaltig in der Fotografie und im Film drängt sich dieses Paris der Boulevards als Kulisse seiner selbst in den Vordergrund.

Auch die Künstlerin Annette Kisling hat sich auf die Suche nach der verlorenen Zeit gemacht. Allerdings ganz zielgerichtet, nicht als Flaneurin im nostalgischen Sinn einer unwiederbringlichen Vergangenheit. Sie fragt nicht, wie sich die Zeit in der Erinnerung konserviert, sondern wie sich Zeit ganz konkret im Stadtraum widerspiegelt. Als Projektionsfläche dieser Schichtung von Zeit hat sie während eines Stipendienaufenthalts in Paris die allgegenwärtigen Schaufenster untersucht – „Les Vitrines“.

Überraschenderweise gibt es ziemlich wenig Mode darin zu sehen, stattdessen viel Inneneinrichtung, Möbel, Lampen, aber auch Verpackungsmaterial, Teppiche oder Weinregale. Der Betrachterblick beginnt schnell zu schweifen, denn um das Schaufenster des Konsumenteninteresses kann es hier nicht gehen. Thema sind die Scheiben selbst. Die mal durchlässigeren, dann wieder mehr spiegelnden Fenster werden gleichzeitig zum Filter zwischen außen und innen und zur Folie, auf der Straßenraum und Gebäudeinneres miteinander verschmelzen.

Eigentlich war Kisling in die französische Hauptstadt gekommen, um nach Architektur der 1950er- und 1960er-Jahre Ausschau zu halten. Die ist aber in Paris nicht so einfach zu finden wie in Berlin, wo die Künstlerin lebt und im letzten Jahr eine Serie zum Hansaviertel fotografierte. In Paris zeigt sich die Moderne dagegen eher diskret. In kaum verborgenen Details, die beim Schaufensterbummel zwar nie auffallen, in den Fotografien jedoch umso mehr Gewicht bekommen. Denn in der Überlagerung von Spiegelbild, Auslage und Innenraum liegt plötzlich alles gleichberechtigt nebeneinander wie auf einem zweidimensionalen Tableau.

Bauformen des Klassizismus neben modernen und zeitgenössischen Fassadenelementen. Barock und Baumarktklinken. Nichts wird häufiger umgebaut und architektonisch weniger beachtet als das Ladenparterre mit seinen Fensterrahmen, Türlaibungen und Namensschildern im wandelnden Material- und Formgeschmack. Funktionsleuchten bekommen in Kislings Schwar-Weiß-Fotos den gleichen Wert wie die ausgestellte Ware, Straßenschilder die gleiche Aufmerksamkeit wie Markenschriftzüge. Parkende Autos reflektieren sich gleich doppelt in die Auslage, als wollten sie mehr Beachtung erheischen als das, was zum Verkauf steht.

Doch sind sie als Reflexionen ebenso sicher vor dem Zugriff wie die Waren. Die mittelformatig hinter Glas und Passepartout, schmal und schwarz gerahmten Fotografien werden in ihrer strengen Reihung selbst zu Schaufenstern. Und die Betrachter flanieren ihrerseits. Sie nehmen die Position der Fotografin ein und filettieren die Suchbilder Schicht um Schicht.

MARCUS WOELLER

Annette Kisling: „Les Vitrines“, bis 9. August 2008, Galerie Kamm, Rosa-Luxemburg-Str. 43/45, Berlin-Mitte, www.galeriekamm.de