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Im Reich der Jaguare

Die Raubkatzen im brasilianischen Sumpfgebiet Pantanal ziehen etliche Touristen an. Die Bootstouren sind eine lukrative Einnahmequelle für die Bewohner der Region. Doch langsam nehmen die Besuche überhand

Auf Jaguar-Safari im Pantanal: Wie viel Tourismus ertragen Mensch und Tier? Foto: Jeff Foott/imago

Aus Porto Jofre Francesco Schneider-Eicke

Wenn Oscar de Morais nicht gerade Jaguare sucht, findet man ihn in seinem Hausboot am Ufer des Rio São Lourenço. Dort sitzt er unter einem Moskitonetz auf zwei gestapelten blauen Plastikstühlen und schaut brasilianische Seifenopern, während ihm ein Ventilator frische Luft zuweht. Bis ihn jemand fragt, ob er ihm die Jaguare zeigen könne. Dann weiten sich die Augen in seinem großen, runden Gesicht, das sonst so grimmig scheint, und er beginnt zu grinsen.

Das Pantanal ist mit knapp 200.000 Quadratkilometern das größte Binnensumpfgebiet der Welt und liegt an der Grenze von Brasilien, Paraguay und Bolivien. Vor 22 Jahren, als de Morais begann, Touristen mit Booten zu den Jaguaren zu führen, galt es als menschenfeindliches Niemandsland, mit Kaimanen, Mücken, Schlangen und Piranhas. Und Jaguaren. Die Pantaneiros, wie sich die Bewohner der Region nennen, jagten die Raubkatzen. Denn die Jaguare rissen ihre Kühe – und die Rancher schlugen zurück. Bald waren kaum noch Jaguare zu sehen.

Zwei Jahrzehnte später gilt die Geschichte des Pantanals als Musterbeispiel für Artenschutz durch Ökotourismus. Denn de Morais und andere aus der Region erkannten, dass sich mit Jaguar-Safaris viel Geld machen lässt. Auch die Rancher verstanden, dass die sonst so seltenen Großkatzen dank der Touristen lebend mehr Nutzen hatten als tot. Der Ökotourismus boomt. Lodges sind Jahre im Voraus ausgebucht. Nirgends auf der Welt leben heute mehr Jaguare im Verhältnis zur Fläche. Doch der Tourismus nimmt überhand.

„Das Pantanal riskiert, Opfer seines eigenen Erfolgs zu werden“, sagt Fernando Tortato, Wissenschaftler und langjähriger Mitarbeiter der Organisation Panthera, die sich um den Schutz von Großkatzen kümmert. In der Hochsaison versammeln sich schnell rund dreißig Boote oder mehr an den Orten, an denen Jaguare gesichtet werden. Alle sind voll mit Touristen, die für das beste Foto möglichst nah herangebracht werden wollen.

Jaguare durchkreuzen auf der Jagd nach Beute allerdings Reviere von über 100 Quadratkilometern. Dafür schwimmen sie sogar durch breite Flüsse. Tortato befürchtet, dass die Massen an Booten die Tiere verschrecken könnten und die Jaguare nur noch in kleineren Gebieten jagen. Zugleich wirken die vielen Menschen für zukünftige Besucher nicht besonders attraktiv. Tortato und seine Kollegen fürchten nun einen Kollaps des eingespielten Konzepts. Wie kann Tourismus funktionieren, ohne die Jaguare und damit auch ihre eigene Lebensgrundlage zu gefährden?

Als de Morais an einem Februarmorgen eine Gruppe Touristen abholt, ist der Himmel noch gräulich grün. Eine Gruppe Hyazintharas schnattert kreischend in einem Baum, während die Touristen unbeholfen in das wacklige Boot steigen. Sie tragen Sonnenhüte und Funktionskleidung. De Morais sitzt am vorderen Ende des Bootes und schaltet sein Funkgerät ein. Darüber informiert er andere Touristenboote, falls er einen Jaguar sieht. „Haltet Augen und Ohren offen nach Bewegungen am Ufer“, ruft er, während er am Starterseil des Außenborders zieht.

De Morais dreht am Gasgriff und manövriert das Boot an unendlichen Feldern von Wasserpflanzen vorbei. Nach einer knappen Stunde Fahrt tut sich hinter einer Kurve ein lichtes Stück Land auf. De Morais geht vom Gas und lässt das Boot näher gleiten. Er kneift die Augen zusammen, hält eine Hand an seine Stirn, um sich vor der Sonne zu schützen, und erkundet konzentriert das Ufer. Ein junger Tourist tut es ihm nach.

„Es braucht viel Glück, um in dieser Jahreszeit einen zu finden“, sagt de Morais. Es ist Regenzeit im Pantanal. Wenn in Europa der Winter anbricht, bringen Winde aus dem Norden Feuchtigkeit aus den Wäldern des Amazonas ins Pantanal. Sie sind so wasserreich, dass sie „rios voadores“ genannt werden: fliegende Flüsse. In diesen Monaten regnet es bis zu 240 Liter pro Quadratmeter, ungefähr doppelt so viel wie in den regenreichsten Monaten in Deutschland. Das flache Land saugt sich voll wie ein riesiger Schwamm. Die Wassermassen fluten Stück für Stück das gesamte Gebiet, bis 80 Prozent der Fläche von Wasser bedeckt sind.

Für de Morais und die anderen Bewohner sind das die ruhigen Monate. Nur wenige Touristen verirren sich in den Sumpf; zu viele Moskitos stechen jeden freien Hautfleck und die Jaguare lassen sich nur selten blicken. Erst wenn das Wasser gegen Mai über den Fluss Paraguay abfließt und die Sumpfgebiete trocken liegen, versammeln sich Capybaras, Kaimane, Riesenotter und Jaguare an den Flussadern, um zu trinken und zu jagen. An solchen Tagen sieht Oscar manchmal 20 Raubkatzen an einem einzigen Tag. Für Touristen ein Paradies. Doch für wie lange noch?

„Wenn Ressourcen wie Jaguarsichtungen frei zugänglich sind, besteht die Gefahr, dass sie übernutzt und letztendlich zerstört werden“, sagt Tortato. „Das kann vermieden werden, indem sich Gemeinschaften auf Nutzungsregeln einigen und kurzfristige Gewinninteressen hinten anstellen.“ Für die Bootsführer ist das allerdings schwierig.

„In den Trockenmonaten wäre es am besten, wenn sie niemandem verraten würden, wo sie Jaguare gesichtet haben“, sagt Tortato. Das würde große Ansammlungen von Booten vermeiden. „Es ist ohnehin fast sicher, einen Jaguar zu sehen.“ Doch für die Bootsführer ist das keine Option. „Das Problem ist, dass die Menschen hier sehr enge soziale Netzwerke haben. Man hilft sich. Dadurch möchte niemand einem Kollegen vorenthalten, wo er einen Jaguar sieht, auch wenn das langfristig für alle am besten wäre.“

Heute bleibt das Ufer aber leer. De Morais schnauft enttäuscht und steuert das Boot weiter flussaufwärts. Kaum andere Boote sind zu sehen. Fährt einmal eines vorbei, wird freundlich gegrüßt. In den Regenmonaten ist es laut Tortato auch weiterhin sinnvoll, Informationen über Jaguarsichtungen zu teilen. So haben Touristen eine gute Chance, einen Jaguar zu sehen, auch wenn diese nur selten an den Fluss kommen.

Doch das Funkgerät bleibt still. Stundenlang steuert de Morais die Touristen durch das Flussnetzwerk, vorbei an den Stellen, an denen er die Jaguare schon so häufig gesehen hat, immer tiefer in die Sumpflandschaft.

„Das Pantanal riskiert, Opfer seines eigenen Erfolgs zu werden“

Fernando Tortato, Wissenschaftler

Auf einmal, schon erschöpft von der brütenden Sonnenhitze, bremst de Morais das Boot und kehrt um. Er zeigt ins Gebüsch. Nur de Morais scheint etwas bemerkt zu haben. Das fleckige Muster ist kaum auszumachen im Wirrwarr des Dickichts. Erst nach einigen Sekunden stechen hellbraun leuchtende Augen heraus. Dann, allmählich, glänzt da eine feuchtschwarze Nase, fügt sich mit den Schnurrhaaren, dem Kiefer und den Ohren zu einem Jaguarkopf. Die rosa Zunge gleitet langsam über die schwarzen Lippen. Der Jaguar gähnt und zeigt seine klauenförmigen, gelben Eckzähne. Die Touristen zücken ihre Fotoapparate. De Morais hat den Motor ausgemacht, es ist jetzt still. Nur das Klicken der Auslöser ist zu hören.

„Welcher Jaguar ist das?“, fragt einer der Touristen. „Das ist Ousado“, antwortet de Morais. Er kann über fünfzehn Jaguarnamen aufzählen. „Patricia ist mein Lieblingsjaguar“, erzählt er. „Manath ist die größte.“ „Und Nina?“, fragt einer der Touristen und deutet auf das Sweatshirt, das der Bootsführer trägt. Darauf ist ein riesiger Jaguarkopf gedruckt, zusammen mit der Aufschrift „Nina“. „Nina ist auch schön, aber nicht so sehr wie Patricia. Die kenne ich schon am längsten. Sie hat inzwischen drei Kinder bekommen.“

Zwanzig Minuten bleibt de Morais vor dem Jaguar stehen, bevor er zurück nach Hause steuert. Dort angekommen, bindet er das Boot fest und die Touristen bedanken sich. Sie sind zufrieden.

So idyllisch wie dieser Ausflug soll es nicht bleiben. Vor wenigen Monaten hat der Staat Mato Grosso beschlossen, eine Brücke über den Rio São Lourenço zu bauen, um Süden und Norden des Pantanals zu verbinden und mehr Touristen in die Region zu locken. Das könnte der Anfang größerer Infrastrukturprojekte sein, vermutet der Wissenschaftler und Umweltschützer Tortato. Zum Beispiel könnte die Transpantaneira, die Schotterpiste durch das Pantanal, asphaltiert werden. „Das wäre dann das Ende des Pantanals, wie wir es kennen.“

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