: „Im Lager ist es ruhig“
Am Tag, nachdem die ersten 51 Boat people aus Hongkong abtransportiert wurden, will der Lagerleiter von Shek Kong die Ruhe bewahren / Gestern fanden erste Demonstrationen statt / Die Regierung will Abschreckungspolitik fortsetzen ■ Aus Bangkok Claude Moore
„Im Lager ist es ruhig. Keine auffälligen Bewegungen unter den Vietnamesen“, antwortet der Lagerleiter auf die Frage von Journalisten nach Reaktionen in Shek Kong, „seinem Lager“. Dennoch sind gerade 40 Blue Berretts, in voller Kampfmontur und bewaffnet, vor dem Lager eingetroffen vorsorglich. Niemand erwartet hier, daß die Ruhe anhält. Am Mittwoch demonstrieren in drei Lagern in Hongkong bereits 6.000 Vietnamesen. Einige Stunden zuvor sind Dienstag früh zwischen drei und vier Uhr die ersten 51 Boat people, darunter 26 Kinder, 17 Frauen und 8 Männer, aus einem Gefängnis abtransportiert und zum Flughafen gebracht worden, wo der Cathay-Pacific-Flieger nach Hanoi bereitstand. Die seit Wochen befürchtete erste Deportation hat stattgefunden.
Außerdem habe er der Lagerbevölkerung mitgeteilt, sagt er unbeirrt in die Kameras schauend, daß sie von der Operation nicht betroffen seien, denn die „unfreiwillige Repatriierung“ gelte nur für diejenigen, die bereits das „screening“ hinter sich haben und deren Asylanträge von den Hongkonger Behörden abschließend abgelehnt sind.
Seitdem im Juni vergangenen Jahres die Hongkonger Regierung beschloß, nicht mehr alle Vietnamesen automatisch als Flüchtlinge anzuerkennen, hat sie ein Asylverfahren (screening) eingerichtet, in dem etwa 10 Prozent der Vietnamesen in erster und nochmals 10 Prozent in zweiter Instanz anerkannt wurden. Eine langwierige Prozedur. Seit Juli 1988 sind etwa 43.900 Vietnamesen in Hongkong angelandet, davon in diesem Jahr bis Ende November fast 34.000. Bis Ende November dieses Jahres sind 1.600 Vietnamesen von ihrer endgültigen Ablehnung benachrichtigt worden, 4.000 sind durch die zweite Instanz gefallen. Nach der Ablehnung ihrer Berufung sind die Chancen auf Umsiedlung in ein Drittland dahin. In den Lagern heißt das, sie haben ihren zweiten „chickenwing“ erhalten, mit dem der Flug zurück nach Vietnam droht.
Und so warten sie, in Knästen, verschlossenen Fabrikgebäuden und Gefangenenlagern, bewacht und verwaltet von Polizei und Gefängnisverwaltung. „Die Lager hier sind das Schlimmste, was ich bis jetzt gesehen habe“, sagt die Mitarbeiterin einer Hilfsorganisation, die seit vielen Jahren in Flüchtlingslagern in Asien gearbeitet hat.
„Das neueste Lager ist nach modernsten Erkenntnissen gebaut. Wir haben die Kritik aufgenommen und alle Vorrichtungen getroffen, dieses Camp mit kommunalen Einrichtung zu versehen“ hatte ein Vertreter der Kolonialregierung gesagt, und auf die herrliche Lage direkt am Meer auf dem Damm des größten Wasserreservoirs Hongkongs hingewiesen.
Auch in den Zeitungen waren Berichte über das seit wenigen Monaten in Betrieb genommene Lager „High Island“ erschienen. Die Hongkonger Bevölkerung wurde beruhigt, daß alle Sicherheitsvorkehrungen unternommen wurden, um Fluchtversuche unmöglich zu machen und die idyllische Umgebung im Sperrgebiet drumherum vor Verschmutzung zu bewahren.
Ein militärisch exakt ausgerichtetes Lager aus Beton, grauem Stahl, Wellblech und Stacheldraht, eingeteilt in Abschnitte, die durch vielleicht fünf Meter hohe Stahlzäune, gekrönt von Stacheldrahtrollen, getrennt sind, bewacht von Wachtürmen, überragt von Flutlichtlampen. In einem der Abschnitte stehen einige Container für die Polizeiwachen und Hilfsorganisationen wie „Medecins Sans Frontieres“, die in den Lagern zu arbeiten versuchen. Doch einmal im Lager, ist der Zugang zu den anderen Teilen nicht ohne Mühe zu gestalten, denn nur die Polizeiwachen haben Schlüssel zu den Durchgängen.
So ist die alltägliche Arbeit in diesem Lager auch ein Kampf mit der alltäglichen Schikane. Von einem Ende zum anderen zu gehen, kann bedeuten, achtmal vor verschlossenen Toren zu stehen, achtmal einen, der mit Knüppel und Spiegelglas-Sonnenbrille bewaffneten Wachen um Aufschluß zu bitten, achtmal zu warten, daß die Wache provozierend langsam herangeschlendert kommt.
Die langgestreckten Wellblechgebäude beherbergen bis zu 300 Personen, die in qualvoller Enge in dreistöckigen Betten untergebracht sind. Direkt neben einer dieser Unterkünfte ein übelriechender Toiletten-Container. Für Probleme im Lager gibt es die Arrest-Container, die in Einzelzellen unterteilt sind.
Ein nach modernsten Erkenntnissen errichtetes Gefangenencamp in bester Lage. Seine Insassen sind Vietnamesen, Frauen, Männer und Kinder, die aus politischen Gründen oder nur mit der Hoffnung auf ein besseres Leben geflohen sind. Egal - die Hongkonger Regierung weiß, daß sie mit ihrer Abschreckungspolitik bei der Bevölkerung Rückhalt hat. Und sie weiß, daß sie die Vietnamesen als Sündenböcke dringend braucht. Denn in den nächsten Tagen wird sie der Bevölkerung mitteilen, daß nur für vielleicht 150.000 von ihnen ein britischer Paß ausgestellt werden wird, der für das Jahr 1997 die Möglichkeit eröffnet, Hongkong gen Großbritannien zu verlassen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen