: Im Innern der Zelle
LOCKED UP Der Beitrag des Prinzhorn-Museums zum 5. Fotofestival Mannheim-Ludwigshafen-Heidelberg
VON URSULA WÖLL
14 Jahre, bis zu seinem Tod 1965, war der Schlosser Julius Klingebiel in der Verwahranstalt Göttingen interniert. In diesen langen Jahren bemalte er die Wände seiner 9-qm-Zelle über und über mit surrealen Bildern, man ist versucht zu sagen, um nicht verrückt zu werden. Das Gesamtkunstwerk ist nun in der Ausstellung „Locked up – Die Zelle“ im Heidelberger Prinzhorn-Museum rekonstruiert. Zu sehen ist auch der Zellenboden, den Marie Lieb 1894 mit Sternen aus gerissenen Betttuch-Streifen verzierte, ein hilfloser Versuch, einen Rest ihrer Selbstbestimmung zu retten. Auf keiner der vielen anderen ausgestellten, unbeholfenen Zeichnungen von Anstaltsinsassen, gerne Selbstporträts, fehlt das vergitterte Fenster, das die Ausgrenzung aus der Gesellschaft symbolisiert.
Einst legte man diese Zeugnisse der Not ungerührt in den Krankenakten ab, wo sie der junge Arzt Hans Prinzhorn aufstöberte, sammelte und 1922 in seinem Buch „Bildnerei der Geisteskranken“ interpretierte, gefolgt 1926 von der „Bildnerei der Gefangenen“. Nach 1968 waren sie Beweisstücke in den heftigen Debatten, die das Prinzip der Zelle grundsätzlich infrage stellten. Franco Basaglia arbeitete damals auf die schrittweise Schließung von Anstalten hin, in Triest konnte man lesen: „La libertà è terapeutica“ (Freiheit heilt). Helga Einsele reformierte als Leiterin des Frankfurter Frauengefängnisses vieles in zähem Beharren, schrieb aber in ihren Lebenserinnerungen: „Anzustreben ist nicht ein besserer Strafvollzug, sondern etwas, das besser ist als Strafvollzug.“ Heute werden die Exponate vor allem als Outsider-Kunst bewundert, Kritik an der Praxis des Wegsperrens provozieren sie kaum noch.
Grenze des Sujets
Für die Ausstellung „Locked up – Die Zelle“ werden sie mit zahlreichen Aufnahmen von Fotojournalisten konfrontiert, also mit dem „neutralen“ Blick von außen auf die Misere. Die Fotos belegen, wie die Isolierten bis heute im Schreiben und Zeichnen ein Ventil für ihr Mitteilungsbedürfnis suchen. Da ist etwa die Aufnahme von 2011, mit der Stuart Franklin die Zeichnung einer Oase auf der Zellenwand eines libyschen Gefängnisses verewigte.
Der 1956 geborene englische Fotojournalist ist wie alle übrigen Fotografen des „Fotofestivals Mannheim-Ludwigshafen-Heidelberg“ Vollmitglied der legendären Magnum-Fotoagentur. Es scheint, als hätten sie alle die besonders krassen Fälle inhumanen Wegsperrens gesucht. Waren sie besonders investigativ und machten Skandale öffentlich? Oder beugten sie sich dem Marktgesetz des Magazinjournalismus, das spektakuläre Storys belohnt? Jedenfalls fehlen Bilder aus fortschrittlichen Anstalten, in denen freilich die Ausgrenzung ähnlich leidvoll erfahren wird.
Wir sehen Menschen, darunter Kinder, in asiatischen oder osteuropäischen, ja sogar in israelischen und französischen Verliesen vegetieren, die an die berühmten Kerker des italienischen Barockmalers Piranesi erinnern. Doch selbst diese Bilder können uns nicht in die Haut der Abgelichteten versetzen. Der 1948 geborene Magnum-Fotograf Jean Gaumy, der Anstalten in Caen und Rouen fotografierte, schrieb 1979 dazu: „Ich stoße hier an die Grenze des Sujets, aber auch die der Dokumentarfotografie an sich. Vor allem die Zeit, Zeit ohne Abwechslung, monoton, zum Verzweifeln: sie ist für das Auge nicht darstellbar. Das Foto der Mauern, der Gitterstäbe, der Uniformen, der Blicke der Häftlinge? Das ist nichts als Kulisse – ein bisschen Exotik.“
Die Prinzhorn-Ausstellung ist Teil des „5. Fotofestivals Mannheim-Ludwigshafen-Heidelberg“, das an sieben weiteren Ausstellungsorten in den drei Städten stattfindet. Das Festival zeigt ausschließlich Fotos aus dem Magnum-Archiv, insgesamt über 1.300 Bilder von etwa 60 Fotografen. Selbst die Kuratorin Andréa Holzherr kommt von Magnum. Mit der Krise der Printmedien ist sie nun dafür zuständig, dass die Agentur im Museum in Erscheinung tritt und der legendäre Magnum-Mythos nicht verblasst. Business as usual also? Nicht ganz, denn das Festival-Mammutunternehmen feiert sein 5. Jubiläum als Biennale, auch diesmal ermöglicht durch die BASF.
Für sie fällt Kultursponsoring längst nicht mehr unter die „Grenzgänge“ oder „Trans-Territories“, wie der Titel lautet, der die acht Ausstellungen aus dem Magnum-Archiv zusammenzuführen sucht. Im Wilhelm-Hack-Museum in Ludwigshafen finden Grenzüberschreitungen der harmlosen Art im Privaten statt, in Form unkonventioneller Fassaden etwa, die Martin Parr zeigt, oder den Ritualen von Jugendgangs, die der Kunstverein zeigt. „Uprooted – Exil“ in der Kunsthalle Mannheim dokumentiert weltweit die unfreiwilligen Grenzgänge von Flüchtlingen in eine ungewisse Zukunft. Entwurzelung heißt auch das Schicksal der chinesischen Wanderarbeiter, mit dem sich der Fotograf Liu Jie auseinandersetzt. Der Abzug der US-amerikanischen GI’s aus Mannheimer Kasernen Ende letzten Jahres, dokumentiert aus der Sicht der Betroffenen, ist eine Auftragsarbeit des Festivals.
■ Bis 10. November, Katalog (Kehrer Verlag) 20 Euro