: Im ICE (2)
Zu groß für die Provinz
Nach Berlin, Hamburg oder München zieht man der Stadt wegen, nach Bielefeld, Gütersloh oder Wuppertal des Jobs oder der Liebe wegen. Stand in einem Lifestyle-Magazin. Ich kenne noch einen anderen Grund. Letztens habe ich mit meinem Freund seine Schwester in Berlin besucht. Sie ist zweimeterfünfzehn groß, mein Freund nur einsneunzig. Die Eltern wissen nicht, wie das passieren konnte. Wenn man die Schwester aus der Ferne sieht, hat man den Eindruck, man könne aufrecht unter ihren Beinen hindurchgehen, ohne auch nur den Kopf einziehen zu müssen.
Nach dem Abitur wanderte sie aus. Berlin ist die einzige Stadt, sagt sie, in der ich durch die Straßen gehen kann, ohne mit offenem Mund angestarrt zu werden. Aus dem Grund wohnt sie schon seit fünfzehn Jahren hier. Wir schlendern mit ihr durch die Straßen. Tatsächlich starrt sie niemand an, obwohl wir ein merkwürdiges Bild abgeben müssen. Sie groß in unserer Mitte, wir vergleichsweise zwergenhaft an ihrer Seite, immer zu ihr aufblickend.
Uns kommt eine Frau entgegen, die zu schön für eine Frau ist und deswegen keine sein kann. Wahrscheinlich hatte sie den gleichen Grund nach Berlin zu ziehen wie meine Schwägerin in spe, sie will auch so sein können, wie sie ist, und dabei nicht ständig angegafft werden. Ich verhalte mich ganz unberlinerhaft und drehe mich um, starre auf ihren wagenradgroßen Hut und besonders neidvoll auf ihre langen, perfekt geformten Beine. Weiße Nylonstrumpfhosen, die können nur die Besten tragen.
Als mein Freund und ich im ICE zurück nach Bielefeld sitzen, fange ich seinen Blick gespiegelt in der dunklen Fensterscheibe auf. Er mustert sich, wie ich mich mustere. Kein Grund, nach Berlin zu ziehen. SANDRA NIERMEYER