Im Hintergrund Migration

Erstmals stehen die Chancen gut, dass in die Bürgerschaft mehrere Abgeordnete einziehen werden, deren Eltern Migranten sind. Ähnlich sind sich der SPD- und der Grünen-Kandidat

von Eiken Bruhn

„Ich kann dir Geschichten erzählen“, sagt Mustafa Kemal Öztürk, „das kannst du dir nicht vorstellen.“ Zum Beispiel, wie er seine damalige Chefin, die Grünen-Politikerin Marieluise Beck auf eine Konferenz begleitete und gefragt wurde, ob er ihr Fahrer sei. „Ich bin vom BKA“, konterte Öztürk, bevor ihn die Bundesintegrationsbeauftragte als ihren persönlichen Assistenten vorstellte. Vielleicht wird er, sollte er nächstes Jahr erwartungsgemäß in die Bürgerschaft einziehen, auch dort gefragt werden, ob er Gemüse anliefert. Das passierte seinem Bruder, der wie Öztürk seit Kindheitstagen in einem Gemüseladen im Viertel jobbt und wie er Politikwissenschaft studiert.

Wütend sieht der 33-Jährige nicht aus, wenn er diese Anekdoten erzählt. Eher wirkt er, als habe er ein wenig Mitleid mit denen, die es nicht besser wissen können, weil ihnen die Erfahrungen fehlen, die er als Kind türkischer Gastarbeiter gemacht hat. Wenn er beispielsweise darüber spricht, dass Bildung der Schlüssel für eine erfolgreiche Integration ist, dann klingt das bei ihm weniger worthülsenhaft als bei anderen Politikern, da er mit seiner Biografie ein eindrucksvolles Beispiel liefern kann. Obwohl er in Deutschland geboren wurde und nie Sprachschwierigkeiten hatte – weder in Türkisch noch in Deutsch, wie er betont – fanden seine LehrerInnen, dass er nicht in eine normale Grundschulklasse gehen sollte, sondern in eine „Integrationsklasse“. Integration, das hieß, dass er mit anderen Migrantenkindern von ausländischen AkademikerInnen mit einer pädagogischen Schnellausbildung unterrichtet werden sollte. Seine Eltern hielten das für ausgemachten Blödsinn und lehnten ab. Auf dem Gymnasium wurde ihm klar gemacht, dass er dort nicht hingehörte, er holte sein Abitur auf dem zweiten Bildungsweg nach, begann mit 28 sein Studium in Bremen. Eine Schuldzuweisung mag er dennoch nicht aussprechen, sondern fordert eine bessere Pädagogen-Ausbildung. Das gleiche gelte für die MitarbeiterInnen des Ausländeramtes. Dass sein „Migrationshintergrund“ für ihn in der Politik ein Vorteil ist, findet er nicht problematisch – genauso wenig wie die Tatsache, dass andere Kandidaten nicht nach ihrer Religion oder dem Beruf des Vaters gefragt werden.

Mustafa Güngör, fünf Jahre jünger als Öztürk und heißer Kandidat für einen der vorderen Listenplätze bei der SPD, hat, was das Thema Integration angeht, dieselben Vorstellungen wie Öztürk. Die Zustände im Ausländeramt prangerte er als Mitglied der Innendeputation an, das gerade beschlossene Bleiberecht ist ihm nicht weitgehend genug und ein Kopftuchverbot, wie es seine Bremer Genossen beschlossen haben, hält er für falsch. Lediglich in ihrer Begründung unterscheiden sie sich. Öztürk, der seine Diplomarbeit über das Thema geschrieben hat, argumentiert damit, dass ein solches Verbot Frauen diskriminieren würde. Dem selbständigen IT-Unternehmer und Politikstudent Güngör geht es darum, dass niemand gezwungen werden dürfe – weder dazu, ein Kopftuch zu tragen noch es abzulegen. Die beiden verbindet außerdem der Wunsch danach, einen parlamentarischen Arbeitskreis Integration ins Leben zu rufen.

Dort würden sie dann auch auf die Migrations-Experten der CDU treffen. Wer das sein wird, steht noch nicht fest, da die Delegierten erst am 9. Dezember über die Kandidaten abstimmen werden. In Frage käme der 39-jährige BSAG-Angestellte Önder Yurtgüven. Dass er als Migrant in seiner Partei den weitesten Weg zu den anderen Mitgliedern zurücklegen muss, sei sogar einer der Gründe, warum er eingetreten ist, sagt er. Einig ist er sich jedoch mit seinen Parteikollegen in der Unterteilung in „gute“ und „schlechte“ Migranten. Er hält es für richtig, dass seine Partei nur denjenigen ein Bleiberecht geben will, die Arbeit haben. Alles andere wäre ungerecht gegenüber denen, die hier malocht haben. Ein Kopftuchverbot hält er für richtig. Allerdings nur dann, wenn auch Kippa und Habitat verboten sind.