: Im Dunkel der Hochhäuser
■ In diesem Krieg vollbringen Mütter wahre Wunder
EssaysDonnerstag, 16. Dezember 1993
Im Dunkel der Hochhäuser In diesem Krieg vollbringen Mütter wahre Wunder
Von Ferida Duraković
Als wir hastig unser Haus am Stadteingang verließen, vielleicht für immer, hatte ich ein paar mir besonders am Herzen liegende Bücher, ein Damennecessaire und Wäsche bei mir. Sie schleppte zwei Tüten mit Nahrung. Was hast du bei dir, Mama? frage ich sie. Das, was alle brauchen, sagt sie. Dann ging sie durch den Granathagel und an den Scharfschützen vorbei bis zu unserem Garten und pflückte Salat, zog Zwiebeln und Möhren für die Enkel.
Hast du Angst? frage ich sie. Nein, mein Kind, sagt sie. Ich denke nur an meine Kinder! Und sofort weist Gott mir den Weg. So und nicht anders!
Als sie meinen Bruder in Stellung schicken, dort bei unserem Haus, macht sie sich zurecht und geht dorthin. Wohin willst du, Mutter, um Gottes willen! Ich gehe, ihm zu helfen, damit ihm leichter zumute ist, sagt sie. Um ein Haar kommt der Bruder um bei dem Versuch, sie aus der Umzingelung zu befreien. Nicht doch, Mama, hilf mir bitte nicht mehr. Jetzt sitzt sie den ganzen Tag über auf dem Balkon, hält Augen und Ohren offen: Lebt er? Vielleicht liegt er auf der blanken Erde? Hat er was zu essen? [...] Erinnern Sie sich an die verrückte Mutter von Nikola Bursać? Mit ihr ist es ebenso. So und nicht anders.
Als ich sie alle nach einem Aufenthalt im 15. Stock im neunten untergebracht habe, bei einem Freund, sagt sie mir, so, als sei sie jemandem etwas schuldig: Weißt du, meine Kleine, ich muß in dieser Küche irgendwie meine Ordnung einführen. Aber ich habe mir gemerkt, wo was steht, und wenn wir nach Hause (!) gehen, dann werde ich alles an seinen alten Platz zurückstellen. So und nicht anders.
Als ich irgendwann einmal von einem „Stadtbummel“ zurückkehre, nehme ich die Stufen, als ginge ich, Gott behüte, durch ein langes Grab, und ich zähle: erste, zweite, dritte, fünfte, siebente, neunte Etage, als ich am Geländer einen Strick wahrnehme. Sie öffnet, ich frage sie, was ist das Mama? Sie: Ich habe ihn dort angebracht, damit du weißt, wann du an unserer Tür anlangst. Früh am Nachmittag zündet sie das Öllämpchen an und stellt es auf die Treppe, damit jeder weiß, wohin er tritt. Laß die Wohnungstür offen, damit die Nachbarn sich in dieser Dunkelheit besser zurechtfinden.
Sie läßt Streichhölzer neben meinem Bett, in den Regalen, auf dem Tisch zurück. Nachts steht sie auf und zündet erneut die Öllampe im Hausflur an. Sie weiß, daß ich im Dunklen Angst habe, ich habe deshalb immer etwas Helfendes bei der Hand. Sie schläft niemals, sondern horcht die ganze Nacht mit ihrem verrückten mütterlichen Ohr in die Stadt hinein, in alle Himmelsrichtungen, ob wir schlimme Träume haben, ob uns etwas weh tut. So und nicht anders.
Den ganzen Tag über, neun Stockwerke hinauf, neun hinunter, schleppt sie Wasser. Vor dem Krieg konnte sie nicht einmal neun Stufen überwinden. Jetzt ist es, als ob ihr gar nichts weh tut. Nur daß sie um zwei Konfektionsgrößen schmaler geworden ist. Jetzt, so sagt sie, darf mir nichts weh tun, jetzt ist Krieg. Später werde ich krank sein, wie es mir Laune macht.
Vor ein paar Tagen fragt mich ein guter Bekannter: Wie schaffst du es, so sauber und weiß zu sein, wo es doch weder Wasser noch Strom gibt? Sie ist schuld, sage ich. Sie geht „auf ein Wasser“ weg, wäscht meine weißen Blusen, kocht die Hosen und Stoffschuhe, trocknet sie.
Dann bittet sie den lieben Gott um etwas Strom, und blitzartig bügelt sie alles und legt es in den Schrank. Sie sagt: Du darfst nicht wie ein Flüchtling aussehen, all denen zum Trotz, die uns aus dem Haus vertrieben haben. So und nicht anders.
Wenn um das Hochhaus herum geschossen wird, streiten wir uns. Ich gehe nicht ins Treppenhaus und auch nicht in den Keller, ich fühle mich besser, wenn ich lese, während die Granaten niedergehen. Also gut, dann bleibe ich bei dir, sagt sie. Und sie setzt sich neben mich, und ich weiß, sie stirbt vor Angst. Und sie sitzt, bis sie mich so wütend gemacht hat, daß auch ich ins Treppenhaus oder in den Keller gehe. Ich habe in meinem Leben nichts Hartnäckigeres erlebt. Sie will mich sicher wissen, oder sie wird nicht sein. So und nicht anders.
Irgendwann zu Beginn des Krieges finde ich sie vor dem Haus, sie sitzt auf einem Sandsack und weint. Was ist, frage ich. Nur so, sagt sie. Wie nur so, frage ich. Na ja, sagt sie, ich schäme mich, euch geboren zu haben. Aber Mutter, wir sind doch gar nicht so schrecklich, versuche ich zu scherzen.
Das ist es doch gar nicht, sagt sie ernst, ich schäme mich, euch in solch eine Welt hinein geboren zu haben. Wenn ich wüßte, daß gerade ich sterben muß, damit der Krieg aufhört, würde ich mich auf der Stelle hinlegen und sterben. Nur damit meine Kinder und Enkel leben können. So und nicht anders.
Ich habe zu Gott jenes ungläubige, spekulative Verhältnis. Sie nicht. Bei all dem bittet sie Gott einzig darum, uns eines Tages wieder zusammenzubringen, lebendig und gesund, in ihrem Haus dort am Eingang der Stadt, damit sie uns ihren Käsestrudel servieren kann, über den wir uns an den Sonnabenden hermachten. Und wir überließen ihr danach noch den Abwasch und das Aufräumen der Dinge,die die Enkel nur in ihrem Haus kaputtmachen und umherwerfen dürfen. So und nicht anders.
Jeden Tag schimpft sie mit mir, weil ich mich angeblich im Leben nicht zurechtfinde, weil ich nicht geeignet bin, eine Situation auszunutzen, weil ich naiv bin... Ich weiß nicht, was ich darauf antworten soll, und sage nur: Na, weißt du, Mama, ich bin Dichterin, und deshalb ist das so. Aber, aber, du bist Mamas Scheißerchen, sagt sie. Und küßt mich wieder so, wie es Mütter eben tun. So und nicht anders.
Und ständig, hartnäckig träumt sie denselben Traum: Sie kehrt nach Hause zurück, das Haus ist ganz, Kerzen überall, der Kater schläft in dem alten Sessel auf der Veranda, sie kommt heiter aus dem Haus, gebadet, es ist Sonnabend, und wir kommen zum Mittagessen und gegen Abend zum Grillen, und sie kann einfach nicht alles schaffen, und Beklommenheit überkommt sie, und sie erwacht – und ein schrecklicher Kriegstag im August bricht an, schweißgebadet und voller Furcht ist sie, in einem fremden Haus, in einem fremden Bett, und dort, über dem Hochhaus, pfeifen die Granaten und zerstören Stück für Stück das alte Herz.
Möge Gott dich mir noch lange erhalten, mein Mütterchen. Halte du aus, dann kann auch ich es. Denn nur mit dir wird dieser Krieg wie eine lange und schwere Krankheit schwinden: Du wirst ihm deinen Wundbalsam auflegen, aus Weisheit und Heilkräutern. Und aus deinen uralten Geschichten, in denen – muß man das denn überhaupt erwähnen? – immer der siegt, der niemandem etwas Böses tut und der nichts Böses denkt.
Aus dem Serbokroatischen von Angela Richter
Zineta Mantagie und ihr Enkelsohn leben im Keller der Kunstakademie Sarajewo Foto: Peter Kullmann/Zone 5
Was ist, frage ich. Na ja, sagt sie, ich schäme mich, euch in eine solche Welt hinein geboren zu haben.
Ferida Duraković ist Sekretärin des bosnischen PEN. Sie hat mehrere Gedichtbände veröffentlicht und lebt in Sarajevo. Foto: Maruša Krese
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