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Identitätsstiftender Islam

 ■  E U R O F A N

Europa und Islam - warum diese Gegenüberstellung eines so ungleichen Paars: eines Kontinents und einer Religion? Weil sie so ungleich gar nicht sind. Europa ist nicht wirklich ein Kontinent - geographisch ist es eher eine Halbinsel, von der keiner weiß, wo sie wirklich anfängt, da weder der Ural noch der Bosporus wirkliche Grenzen sind. „Europa“ ist eher ein Gefühl, das spätestens seit dem Mittelalter eng mit dem Christentum korrespondiert. Der Islam seinerseits ist mehr als eine Religion. Er war von Anfang an eine politische Bewegung, die sich zu einer Zivilisation entwickelte. Geographisch sind Europa und der Islam Nachbarn. Historisch sind sie Rivalen.

Heute ist der Islam die Gestalt, in der die Dritte Welt Europa gegenübertritt. Die moslemische Bevölkerung Nordafrikas, der Türkei und des indischen Subkontinents leidet am meisten unter dem expandierenden europäischen Markt. Andererseits fühlen sich die Europäer von den Bemühungen einiger dieser Staaten äußerst verunsichert, Massenvernichtungswaffen zu erwerben. Denn es sind hauptsächlich moslemische Terrorgruppen, die sich für die Kränkungen an Europa rächen wollen. Entsprechend werden die moslemischen Gemeinden in Europa nur allzuleicht als Vorfront einer Eroberungsarmee gesehen. Geschichten von Szarazenen in Spanien, Türken vor den Toren von Wien oder vom Joch der Tartaren kommen wieder in Mode.

Was den Europäern zum ersten Mal ein Gefühl gemeinsamer Verantwortung gab, war die türkische Gefahr. Diese Gefahr reichte zwar nicht aus, sie zu Zeiten von Reformation und keimendem Nationalismus zu vereinen. Dennoch blieb die Idee der europäischen Einheit mit der des Christentums eng verbunden. Es ist sicher kein Zufall, daß die EG von christdemokratischen - genauer gesagt römisch-katholischen Politikern gegründet wurde.

Vorübergehend waren diese existentiellen Probleme Europas aufgehoben: Während der Periode des kalten Kriegs hatte Stalins Reich Europa einerseits faktisch begrenzt, andererseits auf die Türkei ausgeweitet. Als Nato- und Europarat-Mitglied stand die Türkei kurz davor, auch in die EG aufgenommen zu werden. Seit der Eiserne Vorhang sich gehoben hat, steht Europa wieder vor dem Problem, seine östliche Grenze neu zu definieren. Die Mitgliedschaft in der Nato wird dabei keine besonders wichtige Rolle mehr spielen. Vielmehr wächst die Versuchung, das Christentum als gemeinsamen Nenner zu benutzen. Rußland ist plötzlich wieder „einer von uns“, zumindest wenn es um die Abgrenzung gegen fundamentalistische Moslems geht. Die Frage ist jedoch noch nicht geklärt: Umfaßt das Christentum auch die östliche orthodoxe Welt? Oder sollte es auf das westliche Christentum begrenzt werden? Im letzteren Fall müßte die Grenze mitten durch die Ukraine und durch Jugoslawien verlaufen und zum Ausschluß Griechenlands führen. Deutlich wird: Wo auch immer die zukünftige Grenze Europas liegen wird, das christliche Erbe Europas spielt eine Schlüsselrolle bei ihrer Festlegung.

Edward Mortimer

Der Autor arbeitet für die britische Tageszeitung 'Financial Times‘

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