: Ideale Opfer
PFLEGE In Lüneburg stand ein Pfleger vor Gericht, der eine geistig behinderte Heimbewohnerin vergewaltigt hat. Strafverfolgung, Aufklärung und Selbstbehauptung sind in diesem Bereich besonders schwierig
■ Anzeigebereitschaft: Die Strafverfolgung beim sexuellen Missbrauch Behinderter ist aus mehreren Gründen schwierig. Meist gibt es keine Zeugen der Tat. Werden sexuelle Übergriffe in Heimen bekannt, ist die Anzeigebereitschaft gering. Die Häuser fürchten oft um ihren Ruf, so dass versucht wird, eine interne Lösung zu finden, zum Beispiel durch Aufhebungsverträge mit dem Täter.
■ Strafverfolgung: Selbst wenn es zur Anzeige kommt, führt dies nicht notwendigerweise zu einem Prozess. Denn die Staatsanwaltschaften, so kritisieren Experten, sind nicht immer von der Glaubwürdigkeit der Opferzeugen überzeugt, die zum Teil keine sexuelle Aufklärung erfahren haben und sich nicht detailliert äußern können. F. G.
AUS LÜNEBURG UND CELLE FRIEDERIKE GRÄFF
Bianca W. brachte am 12. Februar 2006 einen Sohn zur Welt. Die Pflegerinnen fanden das Kind in ihrer Windel. Der Fötus war 22 Wochen alt, so vermutet das gerichtsmedizinische Institut. Wäre Bianca W. nicht schwanger geworden, wäre es nie zu dem Prozess gegen den Pfleger gekommen, der sie vergewaltigt hat. Bianca W. ist das, was man das ideale Opfer nennen könnte: Sie kann sich nicht verständlich machen. Seit sie als neun Monate altes Kind Hirnhautentzündung bekam, ist sie auf dem Stand einer Einjährigen stehengeblieben.
Experten schätzen, dass das Risiko behinderter Heimbewohnerinnen, sexuelle Gewalt zu erleiden, doppelt so hoch ist wie das nicht behinderter Frauen. Aber die Öffentlichkeit nimmt das nicht wahr. „Behinderte Menschen gelten als sexuell nicht attraktiv“, sagt Julia Zinsmeister, Professorin am Institut für Soziales Recht an der Fachhochschule Köln. „Und offenbar wird allgemein angenommen, dass nur attraktive Menschen sexuell missbraucht werden.“
Die Forschung beschäftigt sich allmählich mit dem Thema, doch bislang fehlen genaue Zahlen. Bei einer Befragung in Berliner Heimen für geistig Behinderte nahmen die Leiter bei jeder vierten Bewohnerin zwischen 12 und 25 Jahren an, dass sie von sexueller Gewalt betroffen war. Die Befragung fand 1999 statt, zwischen 1991 und 2001 wurde der Berliner Heimaufsicht jedoch kein einziger Fall sexueller Gewalt in Behinderteneinrichtungen gemeldet. „Heime sind, ebenso wie Familien, keine sicheren Orte“, sagt Julia Zinsmeister. „Aber das Bewusstsein dafür setzt sich erst langsam durch.“
Schuldgefühle und Ekel
Bianca W.s Missbrauch wäre schwierig zu vertuschen gewesen. Nach der Fehlgeburt benachrichtigte die Leitung der Diakonie Lobetal im niedersächsischen Celle die Polizei. Die veranlasste einen Massen-DNA-Test, der schließlich auf die Spur von Peter S. führte. Im April dieses Jahres steht er wegen sexuellen Missbrauchs einer widerstandsunfähigen Person vor dem Landgericht Lüneburg.
Peter S. ist 49 Jahre alt, er stammt aus Polen und trägt einen blauen Anzug und eine dunkle Hornbrille, er sieht aus wie ein osteuropäischer Dissident aus den 80er-Jahren, für den die Zeit stehen geblieben ist. Bianca W. wird nie artikulieren können, was die Vergewaltigung für sie bedeutet hat. Peter S., so scheint es, wird diese Tat lange, vielleicht immer, verfolgen. „Ich glaube, ich gehöre für immer ins Käfig“, hat er aus dem Untersuchungsgefängnis an seine Frau geschrieben. „Ich werde Schuldgefühl und Ekel nie überwinden. Es gibt keine Wiedergutmachung.“
Tabuisierte Sexualität
Es ist im Nachhinein nicht mehr genau zu rekonstruieren, an welchem Tag im September oder Oktober 2005 Peter S. Bianca W. vergewaltigte. Sie wohnte gemeinsam mit einer anderen Frau in einem Doppelzimmer, zu diesem Zeitpunkt war sie allein. Peter S. kleidete Bianca W. zum Waschen aus, dann zog er seine Hose hinunter und drang, so zumindest stellt es das Gericht in seinem Urteil fest, in sie ein. Peter S. will sich daran nicht erinnern können. „Als ich merkte, was ich tat, habe ich sofort aufgehört“ ist alles, was er dazu sagen kann und will. Anschließend wickelte er Bianca W. und verließ das Zimmer.
„Hat Frau W. Sie sexuell erregt?“, fragt ihn der Richter. „Das ist doch eine arme Frau“, antwortet Peter S. Bianca W. wiegt bei einer Größe von 1,59 cm 39 Kilogramm. Ihre Beine sind so stark kontrahiert, dass sie bei der Ausschabung nach der Fehlgeburt von zwei Helfern auseinandergezogen werden müssen. Sie verbringt ihre Tage in der Sitzschale eines Rollstuhls, das Einzige, was sie bewegen kann, sind ihre Hände. Aber nicht so zielgerichtet, dass sie in der Lage wäre, den Notrufknopf in ihrem Zimmer zu betätigen. Sie weiß aber auch nicht, was ein Notrufknopf ist. Als „fröhlich“ beschreiben sie die Pflegerinnen. Sie lächelt sie manchmal an, und wenn sie Musik hört, bewegt sie sich dazu. Außerhalb des Pflegepersonals hat kaum jemand Kontakt zu Bianca W. Von ihren Eltern ist im Prozess nicht die Rede, der gesetzliche Vertreter lässt sich wegen Grippe entschuldigen.
Bianca W. ist darauf angewiesen, dass der Sozialleistungserbringer, so heißt es im Behördendeutsch, es gut mit ihr meint. Dass er sie vor Übergriffen schützt. Dass er, wenn es dazu gekommen ist, dafür sorgt, dass sie sich nicht wiederholen. „Ich würde eine Einrichtung nicht allein danach beurteilen, ob es dort zu sexueller Gewalt kommt. Sondern danach, wie dann damit umgegangen wird“, sagt Julia Zinsmeister. Bislang sei oft versucht worden, Vorfälle unter den Tisch zu kehren und die Täter, sofern es Mitarbeiter waren, mit einem guten Zeugnis wegzuloben. In vielen Häusern sei die Sexualität der Bewohnerinnen und Bewohner tabuisiert und stark reglementiert. „Aus wohlmeinender Fürsorge“, sagt Julia Zinsmeister, doch die Folgen seien oft fatal: „Ein solcher Umgang macht die Menschen sprachlos. Wenn sie ihre Sexualität nicht selbstbestimmt leben, finden sie auch nicht heraus, was sie mögen und was nicht.“
Peter S. soll hysterisch gelacht haben, als er von der Fehlgeburt erfuhr. Man kann es sich schlecht vorstellen, er wirkt viel zu verschlossen dazu und in sich gekehrt. So beschreiben ihn auch die Kolleginnen: als zurückhaltend und jemand, der seine Arbeit immer sehr gut machte. Eine Zeugin sagt, dass er sich nach der Fehlgeburt geweigert habe, alleine zu Frau W. ins Zimmer zu gehen oder sie zu duschen. Außerdem habe er begonnen, sich in den Pausen zu den anderen zu setzen, doch an den Spekulationen über den Täter habe er sich nie beteiligt. Einige Wochen nach der Fehlgeburt kündigte Peter S. in Lobetal, aber da er schon lange angekündigt hatte, weggehen zu wollen, überraschte das niemanden.
Warum hat Peter S. die Frau, die er pflegen sollte, vergewaltigt? Der Prozess gibt nicht wirklich eine Antwort darauf. Peter S. führte eine schwierige Ehe mit einer Alkoholikerin, die nach jahrelangem Auf und Ab wieder drohte rückfällig zu werden. Das hat er gegenüber der Polizei ausgesagt, auch gegenüber dem Gericht erklärt er das. Damit, so sagt er, wolle er aber keineswegs ihr die Schuld geben, es soll nur das erklären, was er sich eigentlich nicht erklären kann.
Natürlich sind es solche Fragen, die das Gericht interessieren. Aber für die Frage, wie es den Bewohnern von Lobetal geht, ist das, was in Nebensätzen gesagt wird, ungleich wichtiger. Das Beharren auf Fehlerlosigkeit. Das Unwissen. „Es gibt bei uns kein zu kaltes oder zu warmes Wasser“, antwortet eine Pflegerin auf die Frage des Richters, ob Bianca W. Unbehagen darüber zeigen könnte. Und eine Hausleiterin ist sich unsicher, ob festgelegt ist, dass Männer von Männern und Frauen von Frauen gepflegt werden.
In Lobetal werden 800 geistig und teilweise zudem körperlich Behinderte betreut. Es wirkt wie eine eigene Siedlung mit seinen roten Backsteinhäusern und den breiten Wegen dazwischen. Der Leiter von Lobetal, Pastor Carsten Bräumer, hat sich dazu entschieden, auf Presseanfragen zu antworten – aber wirklich viel erfährt man nicht. Anfang des Jahres ist hier ein zweiter Fall von sexuellem Missbrauch bekannt geworden. Ein Erziehungshelfer soll eine geistig behinderte Frau über Jahre hinweg missbraucht haben, aus der Beziehung ist ein Kind hervorgegangen, zu dessen Vater falsche Angaben gemacht wurden. Nun gibt es eine Arbeitsgruppe, die aufklären soll, wie es dazu kommen konnte. Dabei ist auch eine Bewohnerin.
Frage des Menschenbildes
Ein Mitarbeiter des psychologischen Dienstes, Andreas Lemli, ist nun offiziell Ansprechpartner für Heimbewohner in Fällen sexueller Grenzüberschreitungen. Die Mitarbeiter von Lobetal können sich an Vorgesetzte oder an den psychologischen Dienst wenden. Gibt es weitere Konsequenzen aus den Vorfällen? „Irgendwie haben wir alles richtig gemacht und es ist trotzdem passiert“, sagt Carsten Bräumer. „Das ist schwieriger, als wenn wir klar eine Lücke benennen könnten.“ Die Heimaufsicht habe keine Versäumnisse festgestellt und keine weiteren Auflagen gemacht.
Lobetal ist sicherlich in manchem vorbildlich. „Es gibt hier seit 30 Jahren das Recht, Sexualität auszuleben“, sagt Bräumer. In langjährigen Beziehungen und sogenannten geschützten Ehen, die von Paten begleitet werden. Die Fachkräftequote liegt bei 60 Prozent, das sind 10 Prozent über dem Durchschnitt. Aber was ist mit der Stärkung der Selbstbehauptung der Bewohnerinnen und Bewohner, wie sie Julia Zinsmeister als wichtigsten Präventionsschritt fordert? Dem schließt man sich in Lobetal an – aber wie es konkret umgesetzt wird, ist kaum zu erfahren. Selbstbehauptungskurse soll es im Jahr 2010 geben.
„Man muss es im Alltag verankern“, sagt Andreas Lemli. „Die Basisversorgung Schwerstbehinderter ist ja eigentlich per se jeden Tag eine Grenzüberschreitung.“ Selbstbehauptung fange schon lange vor der sexuellen Eigenverantwortlichkeit an, nämlich schon bei der Entscheidung, ob man tatsächlich eine Jacke anziehen wolle, wenn der Pfleger einen dazu auffordere. Lemli sagt, dass man sich klarmachen müsse, was für eine Macht der einzelne Mitarbeiter unvermeidbar habe – aber wann und wo man sich das bewusst macht, sagt er nicht. Das neue Pflegeversicherungsgesetz sieht vor, dass Heimbewohner ein Anrecht auf Intimpflege durch gleichgeschlechtliche Pfleger haben. „Das ist unser Grundsatz“, sagt Carsten Bräumer. Aber es gebe zu wenig Männer im Pflegebereich. „Und was“, so sagt er, „wenn eine Frau von Männern gepflegt werden will?“ Wenn man Julia Zinsmeister fragt, ob das gewachsene Problembewusstsein angesichts von Pflegenotstand und Kostendeckelung ins Leere laufe, antwortet sie erstaunlich optimistisch. „Viele Maßnahmen kosten kein Geld, sie erfordern ein Umdenken. Es ist eine Frage des Menschenbildes.“
Das Landgericht Lüneburg verurteilt Peter S. zu 3 Jahren und 4 Monaten Haft. Zuvor darf er noch ein Schlusswort sagen: „Ich weiß nicht, wie es dazu kam“, sagt Peter S. „Ich hatte die Frau doch zur Pflege.“