: „Ich will Bedürfnisse wecken“
Marcel Reich-RanickiEs ist Vatertag. Marcel Reich-Ranicki macht einen aufgeräumten Eindruck, als er die Tür seiner Wohnung in Frankfurt-Dornbusch öffnet. Er bietet Kaffee an, und als es Probleme mit dem Aufnahmegerät gibt, hilft er mit einem Kassetten-rekorder aus. Im Gespräch entfährt ihm zuweilen ein wohlmeinendes „mein Lieber“, manche Antwort beendet er mit einem zackigen „Weiter!“. Heute wird Marcel Reich-Ranicki 86 Jahre alt. Sein Kanon erscheint im Insel Verlag
INTERVIEW GERRIT BARTELS
taz: Herr Reich-Ranicki, mit den Essays liegt nun der fünfte und letzte Teil Ihres Kanons der deutschen Literatur vor, an dem Sie über fünf Jahre gearbeitet haben. An sich ein Grund zur Zufriedenheit. Trotzdem haben Sie vor kurzem die fehlende kritische Würdigung dieser Arbeit beklagt und sich auch selbstkritisch über den Kanon geäußert. Warum?
Marcel Reich-Ranicki: Zunächst: Ich bin glücklich, dass die Arbeit am Kanon beendet ist. Ich kenne keine vergleichbare Edition, die auf 50 Bänden das Wichtigste der deutschen Literatur an Lyrik, Dramen, Romanen, Erzählungen und Essays zusammenfasst. Das Echo der Kritik ist ein bisschen spärlich. Aber das war mein ganzes Leben so: Man arbeitet lange an bestimmten Sachen und glaubt, etwas Tolles getan zu haben, und dann erscheint das Werk, und die Kritik schweigt. Dann sagt sie zwar was, am Ende aber nicht viel, und man ist enttäuscht.
Was haben Sie erwartet?
Ein größeres Echo. Ich bin mir auch sicher, dass noch Stellungnahmen dazukommen werden. Die bisherige Kritik aber hat ein Spiel gespielt, das mich langweilt. Vielen Kritikern fällt nur ein, die Löcher im Schweizer Käse zu suchen: Der fehlt und jener fehlt. Aber das ist ja kein Telefonbuch. Gerade der Essay-Kanon enthält für die Kenner der Materie viele Überraschungen. Der Autor, der einen antisemitischen Roman gegen mich geschrieben hat, Martin Walser, wurde keineswegs übersehen und ist sowohl bei den Erzählungen als auch mit einem Essay vertreten. Auch meinen früheren, langjährigen Freund Joachim Fest habe ich, bei allem, was er gegen mich zu schreiben beliebt, berücksichtigt.
Was fehlt Ihnen, wenn Sie jetzt zurückblicken? Gibt es Entscheidungen, die Sie bereuen?
Nein, überhaupt nicht. Es gibt selbstverständlich größere Löcher im Schweizer Käse. Ein Kritiker hat gefragt: Warum fehlen Tagebücher im Kanon? Natürlich gehören die zur deutschen Literatur. Genauso Briefe. Das aber soll einer anderen Edition vorbehalten sein, das soll ein anderer machen.
Und die kleinen Löcher?
Die werden entdeckt, wenn es um einzelne Autoren geht. Aber das hat doch keinen Zweck. Da schreibt einer, Gotthelf ist nicht drin, Stifter nicht, aber es sind beide dabei, bei den Erzählungen. Zu den Romanen: Das sind 20 Bände, die Kassette wiegt achteinhalb Kilo. Natürlich hätte ich gern 25 oder 30 Romane gehabt, die hätte der Käufer dann aber nur mit einem Gepäckträger transportieren können.
Nach was für Kriterien haben Sie ausgesucht?
Nach der Qualität, wonach sonst? Zudem dachte ich an viele Anthologien, die im Lauf der letzten fünfzig Jahre erschienen sind. Diese Anthologien haben oft einen großen Fehler: Von Generation zu Generation wird dasselbe mitgeschleppt. Ihre Herausgeber machen sich oft nicht die Mühe, die Texte, die seit 50 bis 100 Jahren gedruckt werden, noch einmal zu lesen und sich zu überlegen, wie sie heute wirken. Das habe ich sehr wohl getan. Ich habe zum Beispiel Mörike genau geprüft. Von Mörike gibt es sehr viele gute Gedichte. Ich hatte nicht geahnt, dass es so viele sein werden. Andererseits Klopstock. Das weitaus meiste von Klopstock ist verstaubt. Nicht überflüssig, nein, aber nur noch Gegenstand der Forschung. Mein Kanon ist für Leser. Deshalb ist Klopstock nicht so stark vertreten, dafür aber Erich Kästner.
Auffallend ist, dass sehr wenige Frauen vertreten sind, bei den Romanen ist es eine, Anna Seghers – „Das siebte Kreuz“ –, bei den Essays sind es nur neun.
Mein Kanon entspricht den Leistungen der Autoren, die nicht nach ihrer Geschlechtszugehörigkeit ausgewählt wurden. Die Zahl der Lyrikerinnen beträgt im Kanon 32, die der Erzählerinnen 33. Reicht das?
Bei 1.370 Gedichten und 180 Erzählungen.
Die Frage nach der Rolle der Frauen in der deutschen Literatur gehört seit Jahrzehnten zum Standardrepertoire aller Journalisten, die mich interviewen. Nur einmal hat man mich mit dieser Frage in Ruhe gelassen – als 1998 der von mir herausgegebene Band „Frauen dichten anders“ erschien, der 181 Gedichte mit Interpretationen enthält. Das Buch wurde totgeschwiegen, weil es nicht in das blöde Klischee, ich sei ein Feind der Literatur von Frauen, passen wollte. Jedenfalls gibt es in Europa Länder, in denen man sich mit dieser Frage nicht befasst, Polen etwa. Denn die Rolle der Frauen in der polnischen Literatur ist seit etwa 130 Jahren sehr groß. Dort beschweren sich die Frauen nicht, dass die Männer sie nicht zu Wort kommen lassen würden.
Ist beim Publikum das Bedürfnis nach Orientierung durch Kanons oder Literaturgeschichten größer geworden?
Ich war als Kritiker immer daran interessiert, nicht Bedürfnisse zu befriedigen, sondern Bedürfnisse von Lesern zu wecken. Beim Kanon ist das jetzt genauso. Ich habe als junger Mensch die großen Romane der Franzosen und der Russen kennenlernen wollen, aber mir hat ein Kanon gefehlt. Ich hätte gern gewusst: Was genau soll ich denn von Dostojewski, Tolstoi oder Balzac lesen?
Es gab vor kurzem einen Streit in der Literaturkritik über Volker Weidermanns Buch „Lichtjahre“. Es ging darum, wie viel Biografisches einer Literaturgeschichte gut tut, wie viel Analytisches und in was für einem Verhältnis Leidenschaft und Erkenntnis in der Literaturkritik stehen müssen.
Es gibt verschiedene Arten von Literaturkritik. Ich bin strikt dagegen, dass man bestimmte Modelle von vornherein verbietet. Ich halte es für unmöglich, ernste Literaturkritik zu machen ohne die Umstände, die Biografie des Autors zu berücksichtigen. Das kann mal mehr, mal weniger erforderlich sein. Bei der vierten Kritik von Philip Roth habe ich nicht zum vierten Mal Roth’ biografischen Hintergrund gezeigt. Aber wenn ich über einen Roman von Eduard von Keyserling schreibe, muss ich doch die Frage stellen: Wann ist dieser Roman entstanden? In welcher Situation war der Autor? Wie war der geschichtliche Hintergrund in Deutschland zum Zeitpunkt der Veröffentlichung?
Aber um ein Buch zu lieben oder zu verstehen, muss man nicht immer den autobiografischen Hintergrund kennen. Das kann eine Lektüre auch ungünstig beeinflussen.
Halt. Halt. Nein, muss man nicht. Als Leser nicht. Aber als Kritiker, ja. Der Leser liest Bücher zu einem einzigen Zweck: um sich die Zeit zu vertreiben.
In Berlin fand letzte Woche der PEN-Kongress statt. Was halten Sie von der Kombination Literatur und politisches Engagement?
Die direkte politische Wirkung der Schriftsteller ist sehr beschränkt. Als gelungenes Beispiel wird immer Emile Zola und der Dreyfus-Prozess genannt. Zola hat den Prozess neu aufgerollt, der unschuldig verurteilte Jude Dreyfus wurde freigesprochen. Aber Zola hat einen Artikel geschrieben, keinen Roman darüber, und dieser Artikel wäre nicht so wirkungsvoll, hätte Zola nicht viele berühmte Romane geschrieben. Ein Autor muss erst bekannt werden, zeigen, dass er wirklich ein Autor ist. Die Hinwendung von Autoren zur Politik ist oft eine Flucht. Weil sie mit ihren Romanen oder Novellen nicht vorankommen, wenden sie sich der Politik zu.
Wie beurteilen Sie den aktuellen Streit über Peter Handke und den Heinrich-Heine-Preis?
Zu Handke kann und will ich mich nicht äußern.
Wie groß ist der Einfluss der Kritik auf einen Schriftsteller und seine Arbeit?
Ach, wissen Sie: Ein Autor plant ein Jahr ein Buch, dann schreibt er zwei Jahre, dann kommt der Verlag, liest, redigiert, korrigiert, druckt. Bis der Roman erscheint, sind Jahre vergangen. Der Autor ist an ihm nicht mehr interessiert, nur noch an den Kritiken. Ich habe Heinrich Böll einmal gefragt: „Haben Sie als Autor mal etwas von einer Kritik über einen Ihrer Romane gelernt?“ Er hat gesagt: „Nein, das kommt alles zu spät. Wenn die Kritik erscheint, bin ich schon ganz und gar mit was anderem beschäftigt.“
Also ist der Einfluss der Kritik auf die Schriftsteller eher gering?
Die Kritik kommt immer zu spät, aber auf den Erfolg hat sie Einfluss. Von einer Kritik kann abhängen, ob ein Autor einen Literaturpreis bekommt. Von ihr kann es abhängen, ob 20.000 oder 40.000 Bücher verkauft werden, auch, wie der weitere Weg des Autors verläuft. Kritik trägt zum Renommee des Autors bei. Selbstverständlich muss man auch umgekehrt von den Autoren lernen. Mein ganzes Leben lerne ich von Thomas Mann, von Fontane, nicht zu vergessen von Goethe und Schiller und deren Briefwechsel. Wichtig aber ist nicht die Theorie, die der Schriftsteller dem Kritiker beibringt, sondern das praktische Beispiel.
Glauben Sie, dass es noch mal einen so einflussreichen Kritiker, wie Sie es sind, geben wird? Einen Kritiker, den man als „Literaturpapst“ bezeichnet?
Nein, Sie erwarten doch wohl nicht, dass ich Ihnen darauf antworte. Das ist nicht meine Aufgabe. Ich habe mich mit der Literatur der Gegenwart und der Literatur der Vergangenheit beschäftigt und ich beschäftige mich noch damit, und ich habe nicht die Aufgabe, mir über die Literatur der Zukunft und die Literaturkritik der Zukunft Gedanken zu machen. Das sollen andere machen.