Ich hasse Alfred Hitchcock!

Masken, Morde, McGuffins und kein Ende. Anmerkungen zu einem unerschöpflichen Phänomen anlässlich seines Hundertsten  ■   von Claudius Weil

– Machstnfürngesicht?

– Ich soll über Alfred Hitchcock schreiben. Für die taz. Zum Hundertsten. Jeder Depp schreibt heute etwas über Alfred Hitchcock. Und ein paar klügere Zeitgenossen auch. Kannst du dir irgendwas vorstellen, was noch nicht über Hitchcock geschrieben worden ist? Und ich könnte noch nicht mal behaupten, dass alles davon Unsinn ist.

– Also nichts über den kleinen dicken, katholischen Jungen, der von seinem Vater zur Strafe zum Polizisten geschickt wurde, der ihn eingesperrt hat. Nichts über den Gemüsehandel in England, Jesuitenerziehung, soziale Außenseiterrolle, nichts über den Einfluss frei schwebender Hormone auf Angst-Fantasien, nichts über den dunklen Familienroman? Ich meine, davon kriegt man doch nie genug. Der Film als fantastischstes Sublimationsmittel. Man muss das ja nicht so voyeuristisch-besserwisserisch machen wie der Daniel Spoto. Vielleicht eher so metaphorisch. Und politisch. Man kann sich ja vorstellen, dass es da nicht nur um die Ängste einer früh verbogenen Seele geht, sondern auch um die Identität einer Klasse. Hitchcocks Filme sind ja nicht nur immer auf den Kopf gestellte Liebesgeschichten. Sie handeln auch von der inneren Zersetzung der bürgerlichen Klasse.

– Nichts davon. Glaubst du vielleicht, jemand, der mit den Gefühlen der Zuschauer spielt wie auf einer Orgel, wie Hitchcock das selber gesagt hat, würde nicht auch seine Biografie manipulieren? Ich falle ja gern auf jeden Hitchcock-Film herein. Immer wieder. Aber nicht auf diese Psychologie-Spiele. Das ist so offensichtlich wie ein roter Hering.

Suspense! Erklär doch, wie Suspense funktioniert.

– Du meinst, ich soll schon wieder diese Hitchcock-Geschichte von den Leuten erzählen, die auf einem Sofa sitzen und nicht wissen, dass eine Bombe darunter liegt. Sie wissen es nicht, aber wir wissen es. Wie der Regisseur uns zu Komplizen macht. Wie wir hinein wollen in diese Filme und es nicht können. Wie er schneidet zwischen dem subjektiven und dem objektiven Blick auf das, was uns Angst macht, aber nie den blinden Fleck zurückschauen lässt. Wie er uns auf den Bruch hinführt, nicht nur den Bruch in den Menschen und den Beziehungen, sondern den Bruch in der Story, den Bruch in der Wahrnehmung. Der falsche Mann, die falsche Frau. Spaltungen. Dr. Hitch und Mister Cock. Die Religion des Bürgertums ist gar nicht der Erfolg. Es ist das Individuum, das ungeteilte Personenwesen. Und alles sehnt sich doch nach nichts so sehr wie nach der Auflösung dieser Illusion. Ich ist ein anderer. Einer, der sich umso mehr spalten muss, je mehr er einer ist, der angesehen wird. Man zerbricht und wird irgendwie wieder zusammengesetzt in diesen Filmen. Völlig falsch natürlich. Nicht mal wenn man ermordet wird, ist man wieder ein Ganzer. Ich sag dir was: Der Hitchcock hat nicht einmal an den Tod geglaubt. Die Menschen können einfach nicht gescheit sterben in seinen Filmen. Er lässt uns ja immer teilhaben daran, wie Leute sich ausdenken, wie man so etwas macht. Und wie es dann doch anders kommt. Wie das Theater, zum Beispiel, unsere Mordträume aufhebt, und wie es dann doch schrecklich ist, wie jemand um seine letzten Atemzüge ringt, seine Zunge aus dem Mund hängt, Blut den Abfluss hinuntergurgelt. Weil jemand, der nicht als einer leben konnte, auch nicht als einer sterben kann. Nur als Körper. In Hitchcocks Filmen sehe ich immer, dass es gar nicht so leicht ist, jemanden zu töten. Und noch schwerer ist es, sich halbwegs würdevoll ermorden zu lassen.

– Die Würde, das ist überhaupt so ein Thema.

– Schon klar. Hitchcock, der Sadist. Der Voyeur. Der Nekrophile. Seine practical jokes. Sein Rummachen mit den Schauspielerinnen. Die Maskierung des Begehrens. Sein schwarzer Humor. Der derangierte Moralismus. Ist dir schon aufgefallen, dass mit Texten zu Hitchcock dasselbe passiert, was mit seinen Helden passiert? Sie lösen sich auf, sie spalten sich. Während man beschreibt, was man in seinen Filmen sehen will, beschreibt man, was man nie hat sehen wollen. Man beschreibt sich selbst im Zustand der Auflösung. Es ist so leicht, über Hitchcock zu schreiben. Und wahnsinnig gefährlich.

– Du meinst, diese ganzen Texte funktionieren wie Hitchcock-Einstellungen? Der subjektive Blick, „Mr. Hitchcock, wie haben Sie das gemacht?“ Und der objektive Blick: Was macht das Bild in unserem Kopf? Aber kein Blick aus dem Inneren. Also magische Biografie, Angst und Begierde einerseits, Struktur und Methode andererseits. Dieses Vergnügen, alles zu durchschauen und doch darauf hereinzufallen. Hitchcock sagt: Du bist in einem Film. Nicht in einer Imitation der Wirklichkeit, nicht in einem Gleichnis, nicht einmal in einem Traum. Sondern in einem Film. Und trotzdem bist du hin und weg. Wehr dich nur! Der Film hat dich durchschaut! Glaubt nur, was ihr seht, sagt der Rote Korsar, und: Nein, glaubt nicht einmal die Hälfte davon. Glaubt, was ihr wollt, sagt Hitchcock. Nein, Ihr glaubt ja doch das doppelte!

– Die Würde!

– Ach ja, die Würde. Wenn man einen Menschen liebt, kann man ihn auch gleich ermorden. Hitchcock-Filme handeln davon, dass man nicht allein sein kann. Sondern immer den anderen finden muss. Der da ist und den man sich erschafft. Ich schau dir in die Augen, Kleines. Und – bumsti! – ist der oder die Kleine schon nicht mehr eines. Riesengroß, aber nicht mehr eines. Hitchcock war der letzte Romantiker. Nach innen geht der geheimnisvolle Weg. Und warum? Weil diese Klasse ihren historischen Auftrag verfehlt hat. Keine Hitchcock-Figur hat irgendeinen sinnvollen Platz in der Geschichte gefunden. Keine ist Teil eines gesellschaftlichen Projektes. Die History hat sie ausgekotzt, deshalb zersetzt sich unter ihren Blicken die eigene Story. Das Grauen ist ihre Überflüssigkeit. Was sollen sie tun, in einer Welt, die sie nicht gebrauchen kann? Sie haben alle Schicksale und Berufe, die sie nur an die innere Stabilität des Systems binden. Spione, Fotografen, Rechtsanwälte, Musiker, Schmarotzer oder kleine Angestellte, die mit diesem und jenem verwechselt werden. Die Verwechslung bringt nur zutage, dass sich die Absurdität der überflüssigen Menschen, der überflüssigen Klasse an anderem Ort nur grotesk wiederholt. Die Metaphysik der Hitchcock-Filme ist der Kapitalismus.

– Merkst du was? Du interpretierst wie besessen. Hitchcock würde dir wahrscheinlich ein Furzkissen unterschieben. Fang doch lieber mit deinen eigenen Empfindungen an. Wann hast du denn deinen ersten Hitchcock-Film gesehen, und was hat das mit deiner verrückten Kino-Liebe zu tun?

– Da kann ich mich gar nicht so genau erinnern. Meine schönste Hitchcock-Geschichte stammt von einer Frau, die ich einmal sehr geliebt habe. Die wurde in einem katholischen Internat, na ja, erzogen. Und bei besonderen Anlässen führten die Englischen Fräulein ihre Schäfchen in ein Gemeindekino. Nach dem Gottesdienst. Und da gab es auch Hitchcock. „North by Northwest“, glaube ich, oder auch etwas von der englischen Zeit, „The Lady Vanishes“ vielleicht, bestimmt nichts von dem, was der film-dienst damals verdammte. Da waren die Filme jedenfalls am richtigen Ort angelangt. Niemand weiß, wie viel Hitchcock-Filme dazu taten, den Geist des Widerspruchs zu fördern. Als ich zum ersten Mal „Psycho“ sah, waren meine Eltern gerade ... – aber das gehört wirklich nicht hierher. Was ich sagen will: Hitchcock-Filme spielten eine Rolle in vielen Biografien, ohne dass man das so richtig merken musste. Noch keine Antwort, aber schon die notwendigen Fragen. Und das ungeheuer gut versteckt hinter der Maske eines kleinen dicken Mannes mit einem genussvoll masochistischen Hang zur Selbstdarstellung.

– Dann schreib doch was in dieser Richtung.

– Nee, das ist mir zu persönlich. Mich würde ja viel mehr interessieren, was wir heute mit diesen Filmen anfangen. Außer sie zu feiern, wie man seine Klassiker feiert. Die Filme neu sehen. Neu mit den Hitchcock-Filmen sehen!

– Lacan! Žižek! Postpsychologie. Poststrukturalismus. Postmoderne. Post No Bills!

– Hör auf! Erstens sollten die Leute noch verstehen, wovon ich rede, und zweitens geht es auch in der Angstlust um Lust. Wahrscheinlich gibt es in der ganzen Filmgeschichte keinen Regisseur, der sich so genial zu maskieren gewusst hat wie Alfred Hitchcock, und keinen, der so erbarmungslos zugetextet worden ist wie er. Theorie zu Hitchcocks Filmen ist genauso schlimm wie irgendwas Anderes. Aber du hast recht: Es macht Spaß. Man kriegt nie genug davon. Weißt du, wovon ich träume? Von einem Text, der funktioniert wie ein Hitchcock-Film. Oder nicht funktioniert. Mit radikalen Brüchen zum Beispiel, mit „Vertigo“-Verdoppelungen, mit der Suche nach dem Verschwundenen. Mit McGuffins. Weißt schon: Objekte, die die Geschichte in Bewegung setzen, ohne selbst viel zu bedeuten. Irgendwelche Geheimformeln oder Götterzeichen. Hitchcock selber ist ein toller McGuffin in seinem Werk. Und in der Geschichte der Aufklärung. Der Selbstaufklärung der Bewegungsbilder, um genau zu sein.

– Das ist mir zu hoch.

– Mir auch. Aber das ist mein Job. Also weiter im Text. Einen Hitchcock-Text, hab ich gesagt, träum ich mir. Jenseits des Individuums. Mit sagenhaft durchschaubaren Rückprojektionen. Und so genauen Schnitten. Und Tricks, die jede und jeder durchschaut, und trotzdem darauf hereinfällt.

– Übernimm dich nicht. Nicht mal Selznick hat so schlecht bezahlt wie die taz. Alles, was du über Hitchcock sagst, kann gegen dich verwandt werden. Alles, was du gesehen hast, ist der Beweis dafür, dass du etwas anderes übersehen hast. Das Werk ist klüger als sein Autor und klüger als seine Adressaten. Aber es ist niemals so klug wie seine Interpreten. Augenblick mal. Telefon! Was? Ja, der ist hier. Es ist für dich! Taz-Kultur. Wollen wissen, wann dein Hitchcock-Artikel kommt. Bei Anruf Wort.

– Sehr komisch! Ja? Ja. Ja ja. In zwei Stunden. Geht klar. Tschüss. Ich hasse Alfred Hitchcock!

„Neu sehen mit Hitchcock! Lacan! Žižek! Postpsychologie. Poststrukturalismus. Postmoderne. Post No Bills!“ – „Hör auf!“