: „Ich habe mich bei dem Mauersegler bedankt“
Imke Müller-Hellmann ist einem Mauersegler von Niedersachsen bis Sansibar gefolgt: In einem Buch untersucht sie Parallelen von menschlicher und aviärer Migration

Interview Andrea Sievers
taz: Frau Müller-Hellmann, in „Der Zug der Mauersegler“ verknüpfen Sie Vogelzugrouten mit Migrationswegen von Menschen zwischen Europa und Afrika. Wie sind Sie darauf gekommen?
Imke Müller-Hellmann: Zuerst war da einfach die Bewunderung für diese besonderen Vögel, die Freude, wenn sie Anfang Mai auftauchen und die Traurigkeit, wenn sie im Hochsommer wieder aufbrechen. Das Thema Vogelzug und die Leistungen der Vögel sind so faszinierend! An kalten Wintertagen habe ich mich gefragt, wo jetzt die Mauersegler sind, die jedes Jahr unter der Dachrinne des Nachbarhauses in der Helgolander Straße brüten, wo ich wohne. Ob es dort Menschen gibt, die sie bemerken? Mit dieser Frage war das Thema plötzlich weiter gefasst. Wie leben die Menschen dort? Was beschäftigt sie? Was weiß ich über die Lebensbedingungen in afrikanischen Ländern? Was sind meine Vorurteile, mein erlernter Rassismus? Außerdem überqueren Mauersegler zweimal im Jahr die vielleicht größte ökologische Barriere der Welt, die Sahara. Aber auch Menschen auf der Flucht tun dies. Will ich tatsächlich „nur“ über die Vögel schreiben und die Menschen beiseitelassen, die die Wüste unter brutalen Bedingungen ebenso überwinden müssen?
taz: In einer Mauerseglerkolonie im niedersächsischen Dorf Gehrde begleiten Sie Forschende. Wie haben Sie dort „Ihren“ Mauersegler gefunden?
Müller-Hellmann: In dem Jahr waren drei Mauersegler unterwegs, die mit neuester Technik ausgestattet waren. Ich habe mich tagelang auf dem Kirchendachboden des Dorfes auf die Lauer gelegt. Dort sind 31 Kästen so angebracht, dass man sie von innen öffnen kann. Ich habe also alle Vögel, die in ihrem Kasten anlandeten, eingefangen und gefühlt, ob sie einen Helldunkelgeolokator auf dem Rücken tragen. Das ist ein kleines Gerät, das die Lichtstärke im zeitlichen Verlauf aufzeichnet. So kann man später Koordinaten und Route berechnen. Von diesen drei Vögeln ist nur einer zurückgekommen. Das war natürlich ein großer Moment, als wir endlich diesen Vogel in der Hand hielten. Der Beringer Axel Degen hielt den Geolokator in die Luft und sagte: „Und hier ist deine Reiseroute!“ Ich habe mich bei dem Mauersegler bedankt und mich verneigt vor seiner Leistung und dem Tragen des Geolokators. Später habe ich ihm den Namen „Jabari“ gegeben. Das ist Swahili und heißt „mächtig“. Weil ich es unfassbar mächtig finde, so eine Reise in der Luft vollführen zu können. Wenn die Mauersegler ihr Brutgebiet verlassen, bleiben sie neun Monate in der Luft, ohne ein einziges Mal zu landen!
Buch „Der Zug der Mauersegler – unterwegs zwischen Kontinenten“, Hamburg, Osburg Verlag, 300 S., 26 Euro
Buchpremiere 25. 6., Hafenmuseum Bremen, 19 Uhr
taz: Sie schreiben: „Wäre der Vogel nicht diese Route geflogen, klänge es wie für das Buch erdacht“. Wieso?
Müller-Hellmann: Der Ausgangspunkt meines Projektes waren die Mauersegler in der Helgolander Straße in Bremen-Walle. Die Insel Helgoland gehörte von 1807 bis 1890 zu Großbritannien und wurde im kolonialen Geschacher der Großmächte eingetauscht gegen das Fallenlassen von Ansprüchen auf die Insel Sansibar, die zu Tansania gehört. Deutschland war damals Kolonialmacht in Tansania, Großbritannien auf Sansibar. Kurz: Helgoland wurde gegen Sansibar eingetauscht. Da in Walle auch Straßen nach Akteuren der Kolonialgeschichte benannt sind, sollte die Kolonialgeschichte Deutschlands Teil des Buches werden. Die Daten des Geolokators haben schließlich ergeben, dass Jabari nach Sansibar flog, also genau in den Teil des Landes Tansania, mit dem es den Helgoland-Vertrag gab!
taz: Wie hängen Naturforschung und koloniale Gewalt zusammen?
Müller-Hellmann: Oft waren es die fast ausschließlich männlichen Naturforscher, die zuerst in ein Land reisten und den Boden bereiteten für eine koloniale Übernahme. Diese vom Entdeckerturm getriebenen Forscher waren total scharf darauf, sich mit ihren eigenen Kategorisierungen oder auch Artnamen zu verewigen. Sie haben riesige Sammlungen ausgestopfter Tiere erstellt und dafür alles abgeschossen, was ihnen vor die Flinte kam. In den Naturkundemuseen europäischer Städte stapeln sich Millionen toter Tiere. Und hier knüpfen grundlegende Fragen an Naturforschung und Naturbeobachtung heute an: Wer maßt sich was gegenüber der Natur an? Geht es auch um Macht? Um Ausbeutung? Ums Profilieren? Ums Sammeln?
taz: Sie haben für das Buch mit vielen Menschen gesprochen und deren Geschichten aufgeschrieben. Welche Begegnung hat Sie besonders bewegt?
Müller-Hellmann: Die Geschichte des Russlanddeutschen aus Gehrde hat mich lange nachdenklich sein lassen. Und die Begegnung mit dem Ranger Mihayo Ususu Kihemela auf der entlegenen Insel Pemba ist mir auch lange nachgegangen. Der Kontakt mit einem schwulen jungen Mann aus Sansibar besteht bis heute, und das Erzählen unserer Zimmerwirtin Julie in der ehemaligen „Hauptstadt“ von „Deutsch-Ostafrika“, in Bagamoyo, über die tradierten familiären Geschichten aus der Kolonialzeit war auch sehr eindrücklich. Ich hoffe, das kommt auch rüber im Buch.
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