„Ich habe einen Vertrag mit meiner Hand geschlossen. Wir werden uns finden“: „Kopfleuchten“ im Lichtmeß : Die Wirklichkeit findet im Kopf statt
Leise und unaufdringlich beginnt der Film Kopfleuchten mit der Einblendung eines Textes: „Dieser Film handelt von Menschen mit Verletzungen und Krankheiten des Gehirns. Sie erleben die Welt anders. Im Kopf. Also in Wirklichkeit“, steht in weißen Buchstaben auf der Leinwand geschrieben.
So unprätentiös in Szene gesetzt, könnte diese Aussage vergessen werden oder an Schlagkraft verlieren, würde der Film nicht ernsthaft und ausdauernd bei seinem Sujet bleiben. Indem Kopfleuchten jenen Menschen, deren Wahrnehmung von der standardisierten Weltsicht abweicht, Raum und Zeit gibt, sich zu erklären, gewinnt die anfängliche Behauptung an Kontur: Wirklichkeit, heißt es dort genau genommen, findet im Kopf statt. Nur dass die meisten Realitätskonstruktionen der Norm entsprechen und ihre KonstrukteurInnen darum weniger auffallen als die ProtagonistInnen des Films.
Diese haben zumeist eine große Leistung zu vollbringen, um mit ihrer Andersartigkeit in dieser Welt zurechtzukommen. Oftmals wirken sie anstößig, wie jene Menschen, die ein Tourette-Syndrom haben. Hierbei handelt es sich wahrscheinlich um eine Stoffwechselkrankheit, durch die Gesten und Worte teilweise nicht mehr kontrolliert werden können.
Indem die beiden interviewten Tourette-Syndrom-Inhaber in ihrem Alltag gezeigt werden, wird deutlich, wie auffällig die Verselbständigung der Gesten ist, die ihren Körper in Besitz nehmen. Der eine schlägt sich beim Reden an den Kopf, der andere marschiert stramm mit lautem Geschrei an der Bushaltestelle vorbei.
Ein Mittel, um Aufmerksamkeit zu erregen? Ganz und gar nicht, sagen die Betroffenen. Sie berichten, wie sie sich mit einer Krankheit einrichten, die sie nicht beherrschen können: „Ich habe Ticks. Ich besitze sie nicht“, sagt der eine, während der andere beschreibt, dass die Krankheit ein Eigenleben führt.
Dem Tourette-Syndrom unterworfen können sie sich trotzdem mit ihm anfreunden und sich dem Anderen im Selbst ganz zwanglos annähern: „Ich nehme am wenigsten von dem Muss“, sagt der eine.
Ähnliches berichtet ein Interviewter, der nach einem Motorradunfall zu schreiben begonnen hat. „Ich habe einen Vertrag mit meiner Hand geschlossen“, sagt er. „Wir werden uns finden.“ So kann er sich bei der Erkundung seiner neuen Wirklichkeit beiseite stehen, deren größte Herausforderung es ist, „zusammenhängend zu sein“.
Wie viel Kraft ihn das kostet, sieht man ihm in den Bildern seines Alltags nicht an. Man kann es aber seinen Beschreibungen entnehmen, die von der ungeheuren Kraftanstrengung sprechen, den Wahrnehmungsfilter, der sich herabgesenkt hat, zu durchdringen.
Ein anderer Mann wiederum hat sein Gedächtnis verloren und lebt (ähnlich wie in dem Film Memento, wo der Protagonist seine eigene Vergangenheit erforscht wie die eines Fremden) nur noch im Jetzt. „Der Augenblick ist wichtig“, meint er, während seine langjährige Lebenspartnerin in der diametral entgegengesetzten Zeitdimension lebt: „Ich nehme die Kraft aus der Vergangenheit“, sagt sie, als sie gefragt wird, wie sie es schafft, weiterhin mit ihrem Mann zu leben. „Wir haben 22 Jahre eine tolle Ehe geführt.“
Deutlich wird so, wie vielfältig die Strategien sind, um mit den Veränderungen der Wahrnehmung zurechtzukommen. Können die andersartigen Wahrnehmungen aber nicht auch eine Bereicherung sein? Je weiter Kopfleuchten voranschreitet, desto vernehmlicher wird, dass neben den Schwierigkeiten auch eine Vielfalt von Neuem entsteht. „Am Anfang habe ich mich daran orientiert, was früher war“, erzählt eine Befragte, die einen Hirntumor hatte. „Was ich vor mich hin dachte, das war Gemüse. Ich dachte, aber nicht gerichtet. Ich habe mir nie vorstellen können, dass die Welt so auseinander fallen und verwürfelt werden könne. Aber dann habe ich etwas anderes bemerkt, und das war Fülle, Veränderung, Reichtum.“
Es ist der großen Kunst des Zuhörens der Regisseure Thomas Bergmann und Mischka Popp zu verdanken, dass die Zuschauenden in Kontakt mit jener Vielfalt treten können, die einer der Interviewten beschreibt: „Es findet alles Platz im Schädel, so groß es auch sein mag. Das ist eine Zauberwelt.“ Doro Wiese
Heute, 20 Uhr, Lichtmeß