„Ich bin körperlich und seelisch am Ende“

■ Selbsthilfegruppe betreut Aussteiger aus Neuapostolischer Kirche / Keine harmlose Freikirche, sondern „sehr extreme Sekte“ / Boom in Ostblockländern

Aussteiger aus der Neuapostolischen Kirche haben oftmals kein leichtes Leben. „Ich komme mit meinem Alltag einfach nicht zurecht“, erzählt ein junger Mann, der jahrelang Mitglied dieser umstrittenen Glaubensgemeinschaft war: „Körperlich und seelisch bin ich völlig am Ende.“ In einer Berliner Selbsthilfegruppe von Aussteigern berichten andere von chronischen Magen-Darmerkrankungen, Angstzuständen und schweren Depressionen. Einige haben sogar Selbstmordversuche hinter sich.

Die Neuapostolische Kirche werde oft aus Unwissenheit als harmlose Freikirche eingeordnet, warnt der Sektenbeauftragte der Evangelischen Kirche in Berlin- Brandenburg, Pfarrer Thomas Gandow. Per Definition der evangelischen Kirche sei sie allerdings eine „sehr extreme Sekte“. Die Mitglieder würden aufgrund einer überbetonten Autorität ihrer sogenannten Glaubensführer „wie unmündige Kinder behandelt und in große Abhängigkeiten gezwängt“.

Nach eigenen Angaben zählt die Neuapostolische Kirche weltweit 7,5 Millionen Mitglieder, von denen 430.000 in Deutschland leben und sich hier auf 2.600 Gemeinden verteilen. Geleitet werden alle Gemeinden vom sogenannten „Stammapostel“, der seinen Sitz in Zürich hat und als „redender Mund Gottes“ gilt. Richard Fehr ist das weltliche und geistliche Oberhaupt der Sekte und „Jesus gleichgesetzt“. Im Klartext bedeutet das: Wer Kritik an der neuapostolischen Lehre oder am Apostel übt, kritisiert Jesus selbst. 20 Bezirksapostel, denen wiederum zahlreiche Apostel unterstellt sind, wachen streng über die Einhaltung der Glaubensregeln. So versteht sich die Neuapostolische Kirche als „Schlußkirche“, das heißt als „erneuerte Urkirche in der Endzeit“.

Neuapostolische seien zum Beispiel verpflichtet, dreimal wöchentlich am Gottesdienst teilzunehmen, berichtet ein Aussteiger. Außerdem müßten sie einen Tag in der Woche im Gemeindechor mitsingen oder – wer nicht musikalisch ist – die Kirche putzen. Selbst Kinder müßten die langen Gottesdienste ohne Einschränkungen mitmachen. Den Mitgliedern ist es offiziell verboten, an sogenannten „weltlichen Vergnügen“ teilzunehmen. Disco- und Kinobesuche sind verpönt.

Für Bezirksapostel Fritz Schröder, der für Berlin und Brandenburg zuständig ist, sind diese Maßregelungen jedoch keine Verbote, allenfalls Ratschläge. „Wer ein gläubiger Mensch ist, nimmt ohnehin nicht an diesen Freizügigkeiten teil“, sagt er.

Die Zahl der Aussteiger wird nach Angaben von Beratungsstellen in Deutschland größer. Die Neuapostolische Kirche stört das wenig, denn sie partizipiert derweil am „Aufschwung Ost“. In den früheren Ostblockländern boomt das Geschäft. Von 10.000 neuen Mitgliedern allein in Rußland und Kasachstan berichtet Bezirksapostel Schröder, der seit kurzem auch für die „Seelsorge im Osten“ zuständig ist. „Es sind in der Regel Rußlanddeutsche, die froh sind, ihren Glauben wieder leben zu können“, erklärt er. Thaddeus Herrmann/epd