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Archiv-Artikel

„Ich bin der Anwalt der Neuköllner“

Heinz Buschkowsky

„Wenn wir heute nicht umsteuern, werden bestimmte Gebiete Elendsquartiere sein, schlimmstenfalls sogar „No-go-Areas“. Das können wir doch nicht hinnehmen

„Multikulti ist gescheitert.“ Mit diesem knallharten Fazit über seinen Bezirk polterte Neuköllns Bürgermeister Heinz Buschkowsky vor einem Jahr bundesweit in die Medien. Am Donnerstag läuft nun „Knallhart“ in den Kinos an. Der Spielfilm des Regisseurs Detlev Buck über die Gewalttätigkeit und Ausweglosigkeit von Jugendlichen in Neukölln ist Wasser auf Buschkowskys Mühlen. Der für seine Polemik bekannte 57-jährige SPD-Politiker mahnt seit Jahren eine Wende in der Integrationspolitik an. Seine Parteigenossen sind von dieser Art Politik alles andere als angetan. Aber Buschkowsky hat seine Gründe. „Diese rundgelutschten Formelbegriffe kann doch keiner mehr hören“

von PLUTONIA PLARRE und ALKE WIERTH

taz: Herr Buschkowsky, bitte nennen Sie uns drei Gründe, warum wir uns „Knallhart“– den Spielfilm von Detlev Buck über Neukölln – ansehen sollten.

Heinz Buschkowsky: Das ist ein ausgezeichneter Film. Er nimmt einen als Zuschauer von der ersten Minute an gefangen. Man empfindet die gleiche Ausweglosigkeit wie der Hauptdarsteller. Und er fordert heraus, zu sagen: So kann es nicht weitergehen.

Welche Szene hat Sie am meisten beeindruckt?

Die Szene, in der es heißt: „Du Opfer, du.“ In diesem Milieu als Opfer auserkoren zu sein, ist das Schlimmste, was einem passieren kann.

Ist das tagtäglich erlebbar auf Neuköllns Straßen?

Durchaus. „Wer das leugnet, ist lange nicht mit der U-Bahn gefahren“, hat Buck auf die gleiche Frage in einem Interview gesagt. Eine klasse Antwort. Aber der Film könnte genauso gut in Wedding, Kreuzberg, Duisburg oder Hamburg spielen. Die Bildungsferne, die Arbeits- und Perspektivlosigkeit von Jugendlichen und die daraus resultierende Gewalt, Kriminalität und Verwahrlosung – dieses Milieu gibt es überall.

Warum hat sich Buck ausgerechnet Neukölln ausgesucht?

Der Kameramann ist in Neukölln aufgewachsen. Auch Buck kennt die Szene von Neukölln sehr genau. Er sagt, das sei für ihn der schrillste Bezirk. Das ist Bucks Liebeserklärung an Neukölln. Er möchte damit zum Ausdruck bringen: Schaut hin, was hier passiert. Er will wecken, nicht anklagen.

Buck spricht Ihnen aus der Seele?

Absolut. Sonst bin ich immer derjenige, der so was sagt, nur nicht so gut.

In einem Satz auf den Punkt gebracht: Was ist das Hauptproblem von Neukölln?

Das Kernproblem ist die soziale und ethnische Segregation …

die Entmischung.

Richtig. Wissen Sie, welche Bevölkerungsgruppe aus Neukölln am stärksten wegzieht? Der Bildungsmittelstand der Migranten. Gehen Sie mal in die Karl-Marx-Straße. Da gibt es einen exzellenten türkischen Arzt. Was meinen Sie, wo der wohnt? In Zehlendorf. Seine Kinder gehen dort zur Schule. Solche Beispiele kann ich Dutzende nennen. Denn gerade die Menschen mit erfolgreicher Integrationskarriere sagen: Ich möchte nicht, dass meine Kinder im Milieu aufwachsen.

Was ist mit der deutschstämmigen Mittelschicht?

Sie glauben nicht, wie hoch die Zahl der Journalisten ist, die mal in Neukölln gewohnt hat. Viele junge Leute zieht es her, weil es hier eine unheimlich aktive Kulturszene gibt. Auch Neuberliner nehmen ihre erste Wohnung oft in Neukölln. Aber immer, wenn diese Menschen einen gewissen gesellschaftlichen und familiären Stand erreicht haben, ziehen sie fort. Ich kann hingehen, wohin ich will. Egal ob es die Verkäuferin von Blume 2000 ist oder der Geschäftsführer der Tankstelle, ständig sagen mir Leute: Ich habe mal in Neukölln gewohnt.

Was folgern Sie daraus?

Das Abstimmen mit dem Möbelwagen muss aufhören. In 10 bis 15 Jahren wird die migrantische Bevölkerung in Neukölln über eine Dreiviertelmehrheit verfügen. Wenn wir heute nicht umsteuern, werden bestimmte Gebiete Elendsquartiere sein, schlimmstenfalls sogar „No-go-Areas“. Das können wir doch nicht hinnehmen. Auch im multiethnischen Neukölln müssen die Menschen nach dem gleichen Wertekanon miteinander leben.

In welche Richtung muss umgesteuert werden?

Das geht nur über die Bildungspolitik. 70 Prozent der jungen Leute, die in Neukölln-Nord die Schule verlassen, haben keinen oder nur einen einfachen Hauptschulabschluss. Bei den Eignungstests für einen Ausbildungsplatz fällt Helga genauso durch wie Ayshe. Mir hat noch nie einer erklären können, warum Klassen in Neukölln die gleiche Schülerstärke haben wie in Lankwitz oder Dahlem. Ich halte es mit der Devise: Je mehr Werte ein junger Mensch von dieser Gesellschaft in sich aufnimmt – egal wo die Wiege der Großeltern stand –, desto weniger wird er anfällig sein für falsche Werte von Parallelgesellschaften, sei es der religiöse Fanatismus, die organisierte Kriminalität oder überkommene Riten und Bräuche.

Wie erklären Sie sich, dass Kreuzberg im Vergleich zu Neukölln in der öffentlichen Darstellung immer so gut wegkommt?

Kreuzberg hat ein richtiges Nachtleben. Das hat Neukölln nicht. In Kreuzberg gibt es Gebiete, wo offener Champagner ausgeschenkt wird. Wo man beim Veuve Cliquot die Weltlage erörtert. In der Bergmannstraße, am Planufer und am Südstern, wo sich das linksintellektuelle Bürgertum sein Refugium geschaffen hat. Kurzum: Kreuzberg ist Inbegriff für die heile Multikultiwelt der Bundesrepublik Deutschland. In Wahrheit ist dem natürlich nicht so. Aber das wissen nur Insider und die, die tagtäglich damit zu tun haben. Doch der Markenname ist geprägt.

Ärgert Sie das?

Ein bisschen schon. Neukölln hat das Etikett des Schmuddelbezirks, grau in grau, der nichts zu bieten hat. Wo man aufpassen muss, dass man nicht eins über die Rübe kriegt, wenn man über die Straße geht. Dass wir in Neukölln Berlins schönste Moschee, den Britzer Garten, die Neuköllner Oper und vieles mehr haben, wird immer unterschlagen. Das passt einfach nicht ins Bild.

Zu dem Image des Schmuddelbezirks haben aber auch Sie selbst beigetragen. Seit Sie vor etwas über einem Jahr in einem Interview erklärt haben, „Multikulti ist gescheitert“, kennen die Medien kein Halten mehr, was Neukölln angeht.

Ehrlich gesagt hat es mich erstaunt, dass eine Aussage wie „Multikulti ist gescheitert“ zu solchen Eruptionen führen kann. Aber es gibt Leute, für die ist Multikulti der Inbegriff für eine fröhliche Rutschbahn ins Paradies. Für die Leute ist so ein Satz die reine Kampfansage, weil sie nicht wahrhaben wollen, dass es zu Problemen kommen muss, wenn in einer Stadt wie Berlin die unterschiedlichsten Kulturkreise aufeinander stoßen. Das ist im Übrigen auch der Grund, weshalb ich das Integrationskonzept des Berliner Senats als für die Praxis nicht wirklich hilfreich empfinde.

Was stört Sie so an dem Konzept?

Es ist mir zu stark philosophisch geprägt, zu wenig handlungsorientiert. Die Quintessenz von 80 Seiten ist: Wir müssen Einwanderung und kulturelle Vielfalt als Chance begreifen und die Menschen in ihren Stärken erkennen und fördern. Das ist vollkommen richtig. Aber nirgendwo steht: Wir haben soziale Verwerfungen in der Stadt; wir haben den Trend zur individuellen und kollektiven Verelendung; wir haben Parallelgesellschaften und organisierte Kriminalität, die in Teilbereichen von bestimmten Ethnien ausgeht – und diese Probleme werden wir so und so angehen. Da kann man doch auch gleich schreiben: Alle Menschen sind gut. Jeden Tag geht die Sonne auf. Die Erde dreht sich.

Demnach sind Sie der Einzige, der die Probleme beim Namen nennt?

Nein, das ist zu viel der Ehre. Necla Kelek, Zafer Senocak, Seyran Ates und Serap Cileli machen das viel profunder als ich. Auch Frau Künast und Herr Beckstein äußern sich inzwischen sehr prononciert. Sie sehen, wir werden täglich mehr.

Aber keiner haut so auf den Putz wie Sie.

Ich bin der Anwalt der Neuköllner. Vielleicht auch eine Galionsfigur. Aber das stört mich nicht. Der Türkische Bund hat voriges Jahr ein Zehn-Thesen-Papier für die Rechte der Frau in der türkischen Community veröffentlicht. Ein Vorgang, der vor zwei bis drei Jahren völlig undenkbar gewesen wäre, weil in dem Thesenpapier erstmals eingeräumt wird, dass es Zwangsverheiratung, Unterdrückung und Gewalt in der Familie gibt. Es hat lange Zeit als politisch unkorrekt gegolten, solche Dinge beim Namen zu nennen.

Irgendwie kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, dass Sie immer alles besser wissen.

Danke für die Blumen, aber ist das nicht das Grundprinzip der Politik? Ich bin ein Anhänger der Grundlehre von Ferdinand Lassalle: Jede politische Aktion beginnt mit dem Aussprechen dessen, was ist. Ich habe eine Abscheu vor der Form von Politik, die den Menschen vorgaukelt, dass das, was sie im täglichen Leben erfahren, nicht stimmt, weil nicht sein kann, was nicht sein darf. Nehmen Sie nur die Behauptung, der Euro habe nichts teurer gemacht. Was für ein Unfug! Darüber lachen sich die Leute doch scheckig, wenn sie im Supermarkt an der Kasse stehen.

Geben Sie es doch zu: Es gefällt Ihnen, mit markigen Formulierungen zu provozieren.

Politik muss zuspitzen. Diese rundgelutschten Formelbegriffe kann doch keiner mehr hören. Politik muss klar sagen, was sie will. Positiv formuliert bringe ich die Dinge auf den Punkt. Negativ ausgedrückt rede ich alarmistisch. Letzteres sagt immer Herr Piening, was mich wirklich schmerzt.

Nicht nur Berlins Migrationsbeauftragter Günter Piening, auch Ihre SPD-Genossen in der Landesregierung sind Ihnen alles andere als gewogen.

Ich muss damit leben, dass mich wohl einige für einen üblen Provinzling halten, der die Dinge nur aus einer Flunderperspektive wahrnimmt. Für diese Solidarität bedanke ich mich herzlich.

Flunderperspektive soll heißen, dass Sie nie aus Neukölln herausgekommen sind?

Ich hatte meinen Lebensmittelpunkt und meinen Wohnort immer in Neukölln. Aber ich bitte strafmildernd zu berücksichtigen: Bei den vielen Reisen, die er gemacht hat, war er stets bemüht, sich einen guten Überblick zu verschaffen.

Sie gehören zur seltenen Spezies, die es ein Leben lang im Bezirk Neukölln aushält. Liegt es daran, dass Sie weit ab vom Schuss in Buckow in einer Reihenhaussiedlung wohnen?

Pflegen Sie Ihr Vorurteil ruhig weiter. Ich wohne in einer normalen Wohnung am Rande der Gropiusstadt, in Nachbarschaft einer Kindertagesstätte mit 80 Prozent Migranten. Aber was bitte ist erstaunlich daran, dass der Bezirksbürgermeister seinem Neukölln die Treue hält?