„Ich bin beschämend spät aufgewacht“

Weil sie sich weigert, eine Strafe wegen einer Mutlangen-Blockade zu zahlen, sollte die 65jährige Luise Olsen ins Gefängnis / Die 65jährige wollte sich nicht freikaufen für eine „Tat“, die sie aus Überzeugung begangen hatte  ■ Aus Oldenburg Vera Gaserow

Mit einiger Neugier hatten die Frauen in der Justizvollzugsanstalt Vechta gestern nachmittag auf die neue Mitgefangene gewartet, doch dann kam alles anders. Die Frau, die eigentlich für 20 Tage zu ihnen hinter die Gefängnismauern kommen sollte, heißt Luise Olsen, ist 65 Jahre alt und hat weder goldene Löffel gestohlen noch jemanden um die Rente betrogen. Die sträfliche „Tat“ der pensionierten Oldenburger Lehrerin war, an einer Blockadeaktion gegen die Raketen in Mutlangen teilgenommen zu haben. „Gemeinschaftliche Nötigung“ und „besonders verwerflich“ nannte das Landgericht Ellwangen dieses Tun und verurteilte Luise Olsen zu einer Geldstrafe von 600 Mark. Doch Frau Olsen dachte nicht daran, zu zahlen. Schließlich sei das kein „Kavaliersdelikt“, was sie dort in Mutlangen gemacht habe, sondern eine Sache, zu der sie „aus ihrer Verantwortung als Staatsbürgerin und Christin“ auch öffentlich stehen wolle. „Und die 600 Mark würden dann ja doch wieder dem Staat zufließen und indirekt der Rüstung zugute kommen“, sagt sie. Außerdem: Warum sollte sie sich freikaufen, während ihre Mitblockierer, die nicht genug Geld hätten, ins Gefängnis wanderten?

Nein, gezahlt wird nicht, beschloß Luise Olsen, und Ende November kam prompt vom Ellwanger Gericht die Ladung zum Haftantritt. Am 11. Januar Punkt 15 Uhr hätte die Verurteilte Olsen ihre Haft im Frauengefängnis Vechta anzutreten. Doch nachdem der Fall der engagierten Rentnerin durch die Presse ging, war die Sache der Ellwanger Staatsanwaltschaft dann doch reichlich peinlich. In letzter Minute ließ sie Luise Olsen am Wochenende mitteilen, daß ihre Haftstrafe vorerst ausgesetzt sei. Ganz plötzlich habe man entdeckt, daß Frau Olsen möglicherweise ja zahlungsfähig sei, und wer seine Geldstrafe abbezahlen kann, darf nicht in den Knast.

Frau Olsen selbst findet diesen plötzlichen Rückzieher der Justiz „jammerschade“. Nicht daß sie eine Märtyrerin sei, aber sie hätte mit ihrem Haftantritt gern die Aufmerksamkeit auf den Umgang der Justiz mit den Raketenblockierern gelenkt und die öffentlichkeit ein bißchen wachgerüttelt.

So richtig aufgewacht ist die 65jährige selbst erst vor gut vier Jahren. Vorher hatte sie ein ganz normales – wie sie sagt – „beschauliches“ Leben geführt. Sie hatte zwar regelmäßig Zeitung gelesen, sich hin und wieder auch über etwas aufgeregt, aber selbst einzugreifen, das lag ihr fern. Außerdem waren da noch die Familie, die vier Söhne, die sie großzuziehen hatte, und ihr Beruf. „Heute“, sagt Luise Olsen „schäme ich mich dafür, daß ich erst so spät aufgewacht bin.“ Während der Nazizeit, so bekennt sie, hat sie in München zusammen mit den Geschwistern Scholl studiert. Sie hat die Scholls zwar damals schon für ihren Mut zum Widerstand heimlich bewundert, aber „ich bin doch nie auf die Idee gekommen, ich könnte selber etwas ähnliches tun! Wir alten Leute haben doch nicht nur während der Nazizeit geschwiegen. Wir haben doch auch in der Adenauer-Ära geschwiegen zur Wiederbewaffnung und zur Errichtung der Bundeswehr.“ Dieses eigene Schweigen empfindet Luise Olsen heute noch als beschämend.

Daß Frau Olsen sich vor vier Jahren aufmachte, wenigstens etwas von diesem Schweigen wieder gutzumachen, hatte sie anfangs ihrem Sohn Hinrich zu verdanken. Als der in der Mutlangener Pressehütte vor dem Pershing-Stützpunkt aktiv wurde, begann auch sie sich über Rüstungspolitik zu informieren. „Ich habe gelesen und gelesen, und irgendwann wußte ich einfach zuviel und konnte nicht mehr zurück.“ Nach mehreren Besuchen in Mutlangen traute sich Luise Olsen, „ein Stück ihrer angelernten preußischen Vasallentreue“ über Bord zu werfen und sich vor den Pershings auf die Straße zu setzen. Als sie dann merkte, daß die Polizei zwar die jüngeren Leute abräumte, die älteren aber an den Straßenrand drängte, hatte sie, wie sie sagt, „die beste Idee meines Lebens“: Sie rief zu Seniorenblockaden in Mutlangen auf, zu denen dann auch an die 500 ältere Menschen kamen.

„Gerade wir Älteren wissen doch, was Krieg bedeutet“, meint Luise Olsen, „uns nimmt man vielleicht auch ernster. Außerdem: Wir haben viel, viel Zeit, und da müssen wir die Jüngeren doch unterstützen.“ Daß allgemein über die „Jugend von heute“ geschimpft wird, kann Frau Olsen überhaupt nicht verstehen: „Ich finde das ist eine ganz tolle Generation, die da heranwächst. Mit welcher Ernsthaftigkeit sich da viele auseinandersetzen! Im Vergleich dazu war ich früher eine dumme Gans.“

In den letzten vier Jahren, seit sie sich aktiv in die Politik einmischt, hat sich Luise Olsens Leben verändert. „Ich esse anders, ich kleide mich anders, ich verbrauche weniger Strom, das ist wie ein zweiter Lebensabschnitt. Und wenn man erst anfängt, sich mit der Rüstung zu beschäftigen, stößt man schnell auf andere Zusammenhänge: auf die Situation in der Dritten Welt, auf das Problem des Welthungers oder auch auf die Praktiken der Gerichte. Das ist wie eine Lawine, die immer neue Erkenntnisse bringt.“

Auch deshalb bedauert Luise Olsen, daß sie nun ihre Strafe nicht absitzen darf. Denn bei allem „Bammel“ vor der Gefängnissituation hatte sie sich auch auf eine Begegnung mit den Frauen dort gefreut. Und auch einige der Gefangenen waren neugierig auf die grauhaarige 65jährige „Neue“ und hatten schon Interesse an einem Gesprächskreis mit ihr geäußert. Jetzt will Frau Olsen sich um eine Besuchserlaubnis für die Frauen im Vechtaer Gefängnis bemühen.

Daß die Staatsanwaltschaft jetzt versuchen wird, ihre Rente zu pfänden, wird Luise Olsen finanziell verkraften. Aber sie ärgert sich über diese Zwei-Klassen-Justiz, wo sie draußen bleibt, während sich hinter ihrer jüngeren Mitblockiererin Christel Könemund gestern in Bremen die Gefängnistore schlossen und am 1.Februar eine andere Mutlangen-Blockerierin, Kathrin Knobloch, eine fünfzigtägige Strafe absitzen muß.