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INTERVIEW„Eine Totalrevision des Grundgesetzes steht nicht zur Debatte“

■ Jürgen Schmude, Bundestagsabgeordneter der SPD und Präses der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), zur Verfassungsdiskussion

taz: Herr Schmude, die derzeit diskutierten Grundgesetzänderungen beschränken sich auf kleinere Korrekturen, die kaum aus dem Rahmen früherer Änderungen fallen. Eine Revision des Grundgesetzes als Konsequenz der staatlichen Einheit fordern nur noch die Bürgerbewegungen aus der ehemaligen DDR. Die SPD hat sich auf die vage Formel „Weiterentwicklung des Grundgesetzes“ zurückgezogen.

Jürgen Schmude: Es geht darum, für das neue, einheitliche Deutschland eine Verfassung in Kraft zu setzen, die — wenn sie auch mit dem Grundgesetz weitgehend übereinstimmt — den Menschen bewußt gemacht wird und von ihnen auch bewußt gewollt sein muß. Nur das schafft Einheit. Alles andere bedeutet Anschluß, Beitritt, Übernahme. Eine Totalrevision steht nicht zur Debatte, Bagatelländerungen allerdings würden auch nicht ausreichen. Im übrigen macht es immer noch einen Unterschied, ob man gewisse verfassungsrechtliche Vorkehrungen nach sorgfältiger Diskussion und unter Abwägung neuer Gesichtspunkte bestätigt, oder ob man sie fraglos übernimmt.

Die Befürworter einer Verfassungsrevision fordern, daß die Erfahrungen der ehemaligen DDR-Bürger mit der SED-Diktatur und ihrer Überwindung in die zukünftige Verfassung einfließen müßten. Sehen Sie dafür Chancen?

Ich hoffe, daß sich diese Erfahrungen konkret artikulieren lassen. Manches wird bislang eher in Andeutungen vorgebracht, anderes, zum Beispiel die Forderung nach stärkerer Bürgerbeteiligung an der politischen Willensbildung, wird schon deutlicher. Ich glaube, daß ein intensiver Verfassungsdialog uns in die Lage versetzen wird, aus den Erfahrungen der neuen Bürger und zumal aus ihren Erfahrungen mit dem Abschütteln des alten Systems Nutzen für unsere gemeinsame Verfassung zu ziehen.

Im Westen werden mittlerweile auch Vorbehalte geäußert, die Einheit könne sich als Gefährdung zivilisatorischer und demokratischer Errungenschaften der alten Bundesrepublik erweisen.

Ich warne vor dem Anflug von Überheblichkeit, mit dem dieses Argument ausgesprochen werden könnte. Es ist ja nicht so, daß wir die rechtsstaatliche Demokratie hier in ihrer Perfektion kultiviert hätten, so daß alle Anregungen, die von den neuen Ländern kommen, nur Verschlechterungen bringen könnten.

Die Kritiker einer Verankerung von Volksentscheiden in der Verfassung befürchten eine Aushöhlung der repräsentativen Demokratie. Auch die SPD ist in dieser Frage gespalten.

Ich bin ein deutlicher Befürworter des repräsentativen Prinzips. Das schließt aber nicht aus, daß wir die Möglichkeiten der Volksbeteiligung stärken. Gegenüber dem reinen Volksentscheid, wenn er denn stringent durchgeführt wird und auch leicht ins Werk gesetzt werden kann, hätte ich allerdings Bedenken, weil mit ihm Einzelfragen in nicht sehr kompromißbereiter Weise entschieden werden können. Andere in der SPD würden in dieser Frage sicher weitergehen.

Die SPD macht sich stark für die Aufnahme sozialer Staatsziele. Können die denn mehr leisten als die einschlägigen Klauseln, die es im Grundgesetz ohnehin bereits gibt?

Die Rechtsprechung hat diese Klauseln mittlerweile interpretiert und konkretisiert. Das können wir jetzt auch ins Grundgesetz aufnehmen. Damit würde mehr Klarheit und Verbindlichkeit in der Verpflichtung des Staates seinen schwächeren Bürgern gegenüber erreicht. Ich erwarte ein lebhaftes Interesse an diesen Staatszielbestimmungen vor allem aus den neuen Ländern, und ich halte es für möglich, daß sie damit auch Erwartungen verbinden, die wir nicht erfüllen können. Deshalb aber auf soziale Staatsziele gänzlich zu verzichten, hielte ich nicht für vertretbar.

Die Verfassungsdebatte wird seit dem Golfkrieg von der Frage deutscher Beteiligung an UN-Einsätzen dominiert. Wagen Sie in dieser Frage eine Prognose, wie sich die SPD in Bremen entscheiden wird?

Die Verfassungsdiskussion darf nicht hinter dieser Teilfrage verschwinden. Zum anderen bin ich froh darüber, daß es sich meine Partei mit Zugeständnissen der Einsatzmöglichkeiten deutscher Soldaten außerhalb des Nato-Gebietes sehr schwermacht. Es handelt sich da um schwerwiegende, im einzelnen auf Leben und Tod gehende Entscheidungen, für die frühzeitig klare Grenzen und Voraussetzungen geschaffen werden müssen. Das bloße „Nein“ wird sich dennoch auf Dauer nicht halten lassen. Aber die Entscheidung der SPD wird uns, so hoffe ich, vor Abenteuern bewahren.

Nicht nur die Inhalte, auch das Procedere der anstehenden Änderungen ist zwischen Regierung und Opposition umstritten. Was macht denn den Unterschied zwischen einer kleinen Verfassungskommission, wie sie von der Koalition vorgeschlagen wird, und dem Verfassungsrat der SPD aus?

Nach Auffassung der SPD darf sich die Diskussion eben nicht im Kämmerlein abspielen. Sie muß in ein Gremium mit Breitenwirkung. Das ist der Sinn des Verfassungsrates. Sollte er sich nicht durchsetzen lassen, wird man sofort überlegen müssen, wie man die Verfassungskommission aus ihrer Kammer holt, zum Beispiel über eine Ergänzung mit Sachverständigen, und wie man die Beratungsprozedur so gestaltet, daß die Bürger Lust haben, sich daran zu beteiligen.

Am Ende soll ja das veränderte Grundgesetz über eine Volksabstimmung zur gesamtdeutschen Verfassung werden. Das wünschen sich SPD, FDP und Teile der Union. Kritiker gehen weiter und fordern nicht nur eine Akklamationsveranstaltung, sondern die Abstimmung über unterschiedliche Varianten.

Ich würde es begrüßen, daß wir nicht nur die Alternative zwischen „Ja“ und „Nein“ bei der abschließenden Volksabstimmung eröffnen. Denn eine solche Alternative gerät in Gefahr, gar nicht mehr als zwei Wahlmöglichkeiten verstanden zu werden. Da einzelne Abschnitte, bei denen wir so oder so zu Änderungen kommen werden, ja auch strittig sind, ist es ohne weiteres vorstellbar, daß wir bestimmte Änderungspakete zu gesonderten Abstimmungen stellen. Das wäre ein besseres Verfahren als das globale Ja oder Nein, bei dem vielleicht niemand so recht mit „Nein“ stimmen mag, aber sich für das „Ja“ auch nicht besonders interessiert. Interview: Matthias Geis

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