INTERVIEW: „Es ist fünf vor zwölf“
■ Herbert Schnoor, NRW-Innenminister, über seine Möglichkeiten, Flüchtlinge vor Abschiebung zu schützen
taz: Ab 1. Juli sind Zehntausende von De-facto-Flüchtlingen von der Abschiebung bedroht, weil der Bundesinnenminister die Bleiberechtsregelungen der Länderinnenminister nicht übernehmen will. Die Länder haben sich nicht gegen diese Haltung Bonns gewehrt...
Schnoor: Ich habe in der letzten Innenministerkonferenz Anfang Mai darauf gedrungen, daß die bisherigen Duldungsregelungen fortgeschrieben werden. Dem stimmten die meisten Länderinnenminister — darunter auch sozialdemokratische — nicht zu. Oder genauer ausgedrückt: Die Mehrheit war ausdrücklich dagegen, den generellen Abschiebestopp für Flüchtlinge aus bestimmten Ländern beizubehalten. Und der Bundesinnenminister sagte, er könne der generellen Duldung für bestimmte Flüchtlingsgruppen nur zustimmen, wenn das alle Länder einvernehmlich wollten.
Und ein solches Einvernehmen ist nicht in Sicht?
Ich werde jetzt, fünf Minuten vor zwölf, noch einmal versuchen, Wolfgang Schäuble umzustimmen.
Haben Sie denn überhaupt keine Möglichkeit, die De-facto-Flüchtlinge in Ihrem Bundesland vor einer Abschiebung zu schützen?
Bei jedem Flüchtling, der dies verlangt, prüfen wir sorgfältig, ob ihm in seiner Heimat Folter, Todesstrafe oder sonstige Gefahren für Leib oder Leben drohen. Ist dies der Fall, so wird die Abschiebung nach dem Ausländergesetz ausgesetzt.
Etwa 28.000 Prüfungen von Einzelfällen? So viele De-facto-Flüchtlinge leben doch in NRW, oder?
Wir haben 83 zuständige Ausländerbehörden im Land. Die müssen und werden das leisten. Anders kommen wir aus folgender Zwickmühle nicht heraus: Einerseits hat sich die Menschenrechtssituation in den meisten Herkunftsländern nicht gebessert. Andererseits werden die Flüchtlinge aus diesen Ländern hier nicht mehr generell geduldet. Ein Tamile etwa wurde bisher nicht abgeschoben, eben weil er aus Sri Lanka kam, wo Bürgerkrieg herrscht. Nun muß er belegen, daß ihm persönlich Folter oder Tod drohen. Hierüber zu entscheiden, wird für die Ausländerbehörden schwer werden. Interview: Ferdos Forudastan
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