INTERVIEW: EG-Hilfe nützt nur der westlichen Atomindustrie
■ Michael Sailer, Reaktorexperte des Darmstädter Öko-Instituts, war im bulgarischen Atomkraftwerk Kosloduj
taz: Im bulgarischen Kosloduj stehen vier 440-Megawatt-Reaktoren, die selbst die Atomlobbyisten der Internationalen Atomenergiebehörde in Wien für gefährlich halten. Wie hoch ist das Sicherheitsrisiko tatsächlich?
Michael Sailer: Der Sicherheitsstandard der bulgarischen AKWs ist sehr schlecht. Die Druckwasserreaktoren Kosloduj 1-4 stammen aus derselben Serie wie die abgeschalteten Greifswalder Meiler. Unlängst wurde in der Sowjetunion eine Studie fertiggestellt, nach der in diesen Meilern eine Kernschmelze statistisch einmal in 180 Jahren stattfindet. Das wäre 50- bis 500mal häufiger als die Kernschmelz-Wahrscheinlichkeit bei neueren westlichen Reaktoren. Soviel zur theoretischen Technik. Praktisch kommt dazu, daß die Leute dort wenig ausgebildet sind, daß die Maschinen schlecht instand gehalten sind und deshalb mehr Ausfälle passieren.
Die bulgarische Regierung sagt, sie könne auf die AKWs nicht verzichten. Derzeit sind nur die Reaktoren 3 und 4 am Netz, während Block 1 und 2 nachgerüstet werden. Brauchen sie die Atomkraft wirklich?
Das bulgarische Stromnetz besteht aus einer Reihe von Kohlekraftwerken und einigen Öl- und Gaskraftwerken (5.350 MW). Hinzu kommen die Atommeiler in Kosloduj (2.760 MW) sowie Wasserkraftwerke (1.975 MW). Die gesamte installierte Leistung inklusive der Industrieanlagen (1.066 MW) beträgt derzeit ungefähr 11.000 Megawatt. Die Verbrauchsspitze, die noch zu Zeiten sozialistischer Produktion auftrat, lag bei ungefähr 8.000 Megawatt.
Und heute?
Bulgarien verschwendete die Energie genauso, wie früher in der DDR Energie verschwendet wurde. Inzwischen ist der Energiebedarf rapide gesunken, weil viele Industriebetriebe zusammenbrechen. Man muß also davon ausgehen, daß diese Spitze in den nächsten Jahren nicht wieder erreicht wird. Für diesen Winter ist mit einem Spitzenverbrauch von 5.000 Megawatt zu rechnen. In diesem Sommer lag die Spitzenlast bei nur 3.000 Megawatt. Wenn man sich die Zahlen anschaut, sieht man, daß selbst zu absoluten Spitzenzeiten die AKWs nicht unbedingt gebraucht wurden. Heute, bei deutlich niedrigeren Spitzenlasten, braucht man sie auf keinen Fall.
Sind alle anderen Kraftwerke einsetzbar?
Da gibt es noch Probleme, weil, wie früher im Sozialismus üblich, keine Ersatzteile vorrätig sind. Westeuropa könnte hier sicher besser helfen als mit Greifswalder Ersatzteilen für Kosloduj.
Die EG hat zunächst 23 Millionen Mark bereitgestellt. Fließt das Geld nur in die AKWs?
Die 23 Millionen Mark stehen im wesentlichen nicht einmal direkt für die AKWs zur Verfügung. Sie werden zu erheblichen Teilen für eine Studie der westeuropäischen AKW-Betreiber über Kosloduj verbraucht. Zum anderen werden damit die Westexperten in Bulgarien finanziert. Ein Jahr Expertenarbeit mit Unterkunft und Logistik wird sicher eine Million Mark kosten. Dann bleibt also wenig übrig.
Das heißt, die EG setzt allein auf die Atomkraft?
Ja, sie kümmert sich nur um die AKWs, während die wirklich sinnvolle Unterstützung unterbleibt — Managementhilfe beim Handhaben des Verbundnetzes und Hilfe beim Reparieren des Kraftwerkparks. Hilfe zur Selbsthilfe eben. Zweitens wäre es wohl notwendig, als Überbrückung gewisse Mengen Kohle und Öl zu liefern.
In Kosloduj stehen auch zwei neue 1.000-Megawatt-Reaktoren. Gibt es Überlegungen, diese sicherheitstechnisch nachzurüsten?
Es gibt keine konkreten Überlegungen zur Nachrüstung. Die Reaktoren sind vom gleichen Modell wie die, die in Stendal im Bau waren. Sie bringen gleich zwei große Probleme mit. Technisch sind die Reaktoren so wenig ausgereift, daß es laufend zu Schnellabschaltungen kommt, beim Block 5 allein 45mal im vergangenen Jahr. Die Nachrüstung auf westdeutsche Standards würde pro Block zwei Milliarden Mark kosten. Außerdem sind die Reaktoren schlicht zu groß für Bulgarien. Es dürfte nur ungefähr ein Zehntel des Netzbedarfs aus einem Kraftwerk kommen, damit das Netz den Ausfall des Meilers verkraften kann. Das Netz wird total instabil, wenn von den 3.000 Megawatt Leistung für den Sommer schlagartig ein Drittel verschwindet. Anlagen, die permanent den Netzzusammenbruch provozieren, sind das letzte, was die Bulgaren brauchen können.
Hat Bulgarien genug eigene Mittel für irgendeinen dieser Schritte?
Bulgarien hat offensichtlich überhaupt keine Devisen. Und die EG gibt jetzt die Mittel nur für die AKWs, ohne wirklich die Sicherheit erhöhen zu können und die Stabilisierung des bulgarischen Netzes zu erreichen. Man nimmt Bulgarien nur als Vorwand für die Subvention der notleidenden westlichen Atomindustrie. Interview: Hermann-Josef Tenhagen
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen