INTERVIEW: „Hoffnung auf das Europa der Völker“
■ Gibraltars Hauptminister, der Sozialist Joe Bossano, über die Zukunft des Felsens im europäischen Gefüge
taz: Worin unterscheiden sich die Gibraltarer von den Spaniern?
Joe Bossano: Wir sind im Grunde ein mediterranes Volk, aber aufgrund unserer Erziehung und unserer Kultur ist uns alles in Großbritannien sehr vertraut. Die gesamte Entwicklung unserer Gesellschaft basiert auf einer Nachahmung des United Kingdom, jedoch mit seinem eigenen Beigeschmack. Kulturell ist unsere ganze Denkart nicht spanisch, sondern nordeuropäisch. Und das seit 300 Jahren.
Was würde sich für Gibraltar ändern, wenn es zu Spanien gehörte?
Wir finden, daß unsere Gemeinschaft sehr viele positive Seiten hat, die wir nicht gerne verschwinden sehen würden. Wir haben zum Beispiel viel stärkere Familienbeziehungen hier, als es sie irgendwo in Europa gibt. Das Ausmaß an Verbrechen, das Drogenproblem, der Mangel an öffentlicher Sicherheit, das gibt es hier noch nicht so. Wir fühlen uns wie Mitglieder eines großen Stammes, und wollen nicht, daß der Stamm zerfällt.
Wie könnte eine Lösung für das Souveränitätsproblem aussehen?
Ich denke, wir bewegen uns in Richtung auf ein föderales Europa. Und das muß ein Europa der Völker sein, denn die Völker Europas sind älter als seine Staaten. In einem Europa der Völker, das in einem langsamen Prozeß entsteht, wird nationale Souveränität jedoch immer weniger Bedeutung haben. Der gesamte Prozeß der Harmonisierung der EG besteht ja bereits jetzt darin, daß die einzelnen Regierungen zunehmend aufgefordert werden, ihre nationalen Gesetze denen der EG anzupassen. Die künftige Landkarte Europas ist kein Europa der Zwölf, sondern ein Europa, in dem die Bundesregierung und die Regionen mehr und die Zentralregierungen weniger Macht haben. In diesem Kontext könnte Gibraltar etwas sein, was auch andere Teile von Nationalstaaten sein können. Und ich glaube, daß der Ausbruch der Nationalitätenkonflikte in Jugoslawien und der Sowjetunion zeigt, daß dies ein sehr aktuelles Anliegen ist.
Kann Gibraltar die Unabhängigkeit von Großbritannien erhalten?
Natürlich. Wenn es das Problem mit Spanien nicht gäbe, wären wir es schon.
Demnächst werden sich Felipe Gonzalez und John Major treffen und auch über Gibraltar reden. Gonzalez sagt eindeutig, Spanien will Gibraltar zurückhaben und bezieht sich dabei auf den Vertrag von Utrecht, der festlegt, daß, wenn sich die Briten aus Gibraltar zurückziehen, dann der Felsen wieder an die Spanier geht.
Der Vertrag von Utrecht wurde im Jahre 1713 abgeschlossen, das heißt 60 Jahre vor der Französischen Revolution. Also in einer Welt, in der Monarchen Länder verteilen konnten, ohne die Leute, die dort lebten, zu befragen. Im wörtlichen Sinne des Vertrags können wir keine Republik sein. Doch es gibt keinen Passus, der untersagt, daß das Staatsoberhaupt eines unabhängigen Gibraltar dieselbe Person wie der Monarch in England sein könnte. Es gab das Konzept der parlamentarischen Demokratie noch nicht.
Wenn Großbritannien seine Souveränität über Gibraltar an Spanien abgäbe...
Das kann es nicht. Denn die Verfassung von Gibraltar besagt, daß das nur geht, wenn das Volk von Gibraltar es will. Man müßte ein Referendum abhalten. Und beim letzten Referendum waren insgesamt 44 Personen für den Anschluß an Spanien.
Was für eine Lösung stellen Sie sich vor für das Souveränitätsproblem?
Wir suchen nach keiner Lösung. Mein Problem ist, wie wir in einem sehr schwierigen internationalen Klima und einem wachsenden Konkurrenzkampf wirtschaftlich überleben können. Das ist die Aufgabe der Regierung von Gibraltar. Dafür muß ich die Souveränität von Gibraltar nicht verändern. Wenn es innerhalb der Veränderungen, die in der EG anstehen, möglich wäre, einen neuen Status für Gibraltar zu entwickeln, so würden wir uns sicher an der Suche beteiligen.
Aber die Entwicklung zum Europa der Regionen wäre langfristig...
Mag sein. Wir sind seit 300 Jahren hier und haben es nicht eilig. Interview: Antje Bauer
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