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INTERVIEW„Homosexuelle beschäftigen sich mit „für die Gesellschaft nutzlosen Dingen“

■ Die Familie galt als unterste Ebene des Staatsaufbaus, die Beziehungen wurden entemotionalisiert, es entwickelte sich eine asexuelle Gesellschaft

Unweit der protzigen „Ausstellung der Errungenschaften der Volkswirtschaft“ — WDNX — wurde unlängst in Moskau die erste Beratungsstelle der Ex-Sowjetunion für Schwule und Lesben ins Leben gerufen. Die taz sprach mit dem Beratungsteam, dem Psychiater Nikolaj Olejnikow und den Psychologen Jewgenij Maslow und Tatjana Drakina.

taz: Sie eröffnen die erste Beratungsstelle für Homosexuelle in der ehemaligen Sowjetunion, obwohl die gleichgeschlechtliche Liebe in allen fünfzehn Republiken immer noch kriminalisiert ist.

Maslow: Wir tun nur, was wir für nötig halten. Als Psychologen und Psychiater arbeiten wir übrigens bereits seit gut einem Jahr intensiv mit Homosexuellen zusammen.

Gab es irgendwelche Schwierigkeiten von Seiten ihrer Arbeitgeber oder der Behörden?

Olejnikow: Nein, bislang nicht. Unser Institutsdirektor ist sehr progressiv eingestellt und unterstützt unsere Gruppe. Auch die Behörden tolerieren unsere Arbeit. Es muß allerdings dazugesagt werden, daß wir bislang sozusagen kostenlos arbeiten. Die Zeit ist wohl noch nicht reif dafür, offiziell Geld für eine derartige Beratungsstelle zu bekommen.

Rückt die Amtsmedizin der Ex-Sowjetunion von ihrem Bild: homosexuell gleich krank beziehungsweise pervers immer noch nicht ab?

Maslow: Nein, bis heute gilt Homosexualität in der Ex- Sowjetunion auch unter Medizinern als anomale Veränderung des Sexualverhaltens, die geheilt werden muß und kann.

Olejnikwo: Sogar im neusten Psychologie-Lehrbuch der Ex-Sowjetunion ist Homosexualität als Krankheit dargestellt. Wir sind aber nicht die einzigen Psychologen beziehungsweise Psychiater, die einen anderen Ansatz haben. Es gibt vereinzelt Kollegen zum Beispiel in Moskau, Leningrad und Nischnij Nowgorod, die ähnlich arbeiten.

Wie arbeiten Sie?

Maslow: Wir wollen nicht nur helfen, sich zur Sexualität zu bekennen, sondern im Grunde, sich in der gesamten Persönlichkeit selbst zu akzeptieren. Wenn jemand das möchte, stellen wir auch Hilfen zur Umorientierung zur Heterosexualität bereit.

Ist es in den letzten, sagen wir, zehn Jahren in der ehemaligen Sowjetunion leichter geworden, schwul oder lesbisch zu sein?

Drakina: Ja, meiner Meinung nach hat sich vieles verändert. Obwohl oberflächlich betrachtet noch alles beim Alten ist, beginnen die Menschen zu fühlen, daß sie Individuen sind und sein dürfen, daß sie nicht nur wie Maschinen dem Staat dienen müssen. Das ist besonders für die Homosexuellen ein unabdingbarer Schritt.

Wie Maschinen dem Staat dienen?

Olejnikow: Ja, dies war bis zur Perestroika das aufgezwungene Lebensziel. Auf privater Ebene entwickelte sich seit den dreißiger Jahren die asexuelle Gesellschaft. Die Familie galt als unterste Ebene des Staatsaufbaus, was zu einer Ent-Emotionalisierung der Beziehungen führte. Bei Eheproblemen wandte sich die Frau oder auch der Mann fortan an das Parteikomitee.

Drakina: Sogar die Denunziation des Ehepartners als Volksfeind wurde möglich und zu einer häufigen Erscheinung. Für uns ist das heute schwer zu verstehen. Es ist das Prinzip des totalitären Staates, das Privatleben des einzelnen völlig zu reglementieren.

Liegt hierin auch die Ursache für die weit verbreitete „Homophobie“, die Ablehnung Homosexueller, in der Sowjetunion?

Ja, die Menschen hatten unter Einfluß des „kollektiven Bewußtseins“ Angst vor jeder Form von Individualität. Durch das völlige Unterwerfen unter die standardisierten Normen der Sexualität, konnte ein Abweichen, wie es Homosexualität darstellt, unmöglich akzeptiert werden. Darüber hinaus beschäftigen sich Homosexuelle mit, „für die Gesellschaft nutzlosen Dingen“ — sie bereiten sich gegenseitig Vergnügen. In einem totalitären Staat ist das allein schon ein Verstoß gegen die Regeln.

Wie wehren sich Schwule und Lesben gegen den Widerstand in der Bevölkerung?

Das spielt sich zur Zeit noch hauptsächlich auf psychologischer Ebene ab. Einige schaffen es, ihre Homosexualität zu akzeptieren, was ein hartes Stück innere Arbeit ist. Häufig führt der Kampf gegen die gesellschaftlichen Ansprüche jedoch zu innerer Zersplitterung, Neurosen, Depressionen, Griff zu Alkohol und Drogen. Auch sexuelle Anspruchslosigkeit und häufiger Partnerwechsel sind die Folge. Sex wird vom eigentlichen Leben getrennt. Wie viele Menschen einen solchen Weg einschlagen, ist schwer zu sagen. Wegen der noch bestehenden Strafandrohung wenden sich natürlich nicht alle bei Problemen an Psychologen.

Treibt die Homophobie Homosexuelle in Richtung Bisexualität sprich Ehe?

Olejnikow: Natürlich gibt es solche Fälle. Sozialer Erfolg in der Sowjetunion ist sehr stark an die Erfüllung der gesellschaftlichen Normen gebunden; insofern handelt es sich gewissermaßen um einen Schutz nach außen. Ein anderer Grund für schwule Männer zu heiraten, ist auch der Wunsch nach Kindern. Diese Ehen führen jedoch meist zu massiven Problemen beim heterosexuellen Geschlechtsverkehr und sind häufig von kurzer Dauer.

Wie sieht es aus mit der Aids-Gefahr in der Ex-Sowjetunion?

Die Prognosen sind ziemlich bedrückend, besonders für die Risikogruppen. Außerdem stellen auch die medizinischen Bedingungen im Land einen Risikofaktor dar. Während sich im Westen innerhalb der Homosexuellenszene schon ein sehr starkes Bewußtsein für das Aids- Problem entwickelt hat, treffen wir immer noch auf junge Männer für die Aids und auch Syphillis völlig leere Worte sind. Es ist sehr traurig, daß die Partnersuche in der Sowjetunion häufig in öffentlichen Toiletten und Bädern stattfinden muß.

Welche Chancen geben Sie ihrem Kampf gegen die Kriminalisierung der Homosexualität?

Wir hoffen natürlich, weitere Kreise als nur die Homosexuellenszene zu erreichen und so zu einem Bewußtseinswandel beizutragen. Darüber hinaus veröffentlichen wir in Fachzeitschriften Artikel über unsere Arbeit, um auch auf wissenschaftlicher Ebene die Absurdität des Paragraphen zu beweisen.

Drakina: Man kann unsere Arbeit in einen allgemeinpolitischen Kontext stellen. Wenn Demokratie in der Ex- Sowjetunion gelingen soll, müssen auch die Homosexuellen dort ihren Platz haben. Kurz: Wenn es der Demokratie gut geht, geht es auch den Homosexuellen gut.

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