INTERVIEW: Nach 21 Jahren DDR-Haft kein normaler Mensch mehr
■ Christian Flügge, Abteilungsleiter Strafvollzug beim Justizsenator, zum Gefährdungspotential amnestierter DDR-Straftäter, nachdem ein vorzeitig entlassener Mörder in der Neujahrsnacht zwei Kinder tötete
taz: Der doppelte Kindermord hat der Öffentlichkeit deutlich gemacht, welche Problematik mit der DDR-Amnestie für Strafgefangene zur deutschen Einheit entstanden ist. Haben Sie dieses Problem auch erst jetzt wahrgenommen?
Christian Flügge: Es wäre schon grotesk, wenn es eines solchen Falles bedurft hätte, um uns damit auseinanderzusetzen. Klar ist, daß der Strafvollzug in der früheren DDR Leute mit einer entsprechenden persönlichen Problematik eigentlich nicht genügend auf das Leben in Freiheit vorbereitet hat.
Insbesondere Sexual- und Gewalttäter haben keinerlei erforderliche psychologische oder therapeutische Betreuung erfahren. Sie sind durch Disziplinierung und intensive Arbeit »behandelt« worden. Eine Aufarbeitung der Persönlichkeitsproblematik hat nicht stattgefunden. Diese Leute stellen nach ihrer Haftentlassung selbstverständlich wieder ein Gefährdungspotential dar.
... die sind in DDR-Haft einfach nur weggeschlossen worden?
Die sind weggeschlossen worden und sind vor allen Dingen diszipliniert worden in einem minutiösen Tagesablauf, bis dahin, wie man den Schrank ordnet und die Zahnbürste hinzustellen hat. In den DDR-Haftanstalten hat eine Atmosphäre geherrscht, daß Menschen, die nicht der Norm entsprachen, in ihrer Persönlichkeit zusätzlich beschädigt wurden. Dadurch ist hier ein Gewaltpotential vorhanden, wo westliche Praktiker sagen, daß sie diese Agressivität in dieser Form und Massierung nicht kannten.
Ist bekannt, wieviel Gefangene freigekommen sind?
Noch in der Amtszeit Krenz', nämlich Ende 1989, hat es zwei Amnestien gegeben, in denen eine sehr, sehr große Zahl von Gefangenen, insbesondere natürlich politische Gefangene, freigekommen sind. Dann hat es in den letzten Tagen der DDR ein Gesetz zum teilweisen Straferlaß gegeben. Sehr vielen Gefangenen ist ein Drittel der Strafe erlassen worden. Ausgenommen waren die Lebenslänglichen. Daneben gab es noch Gnadenerweise, durch die ebenfalls eine größere Zahl von Gefangenen freigekommmen sind. Zahlen kennen wir nicht. Zum Ende der DDR aber waren weniger als 5.000 Menschen in der gesamten DDR inhaftiert.
Gab es Hinweise, daß Straftäter mit bestimmten Strafmerkmalen nicht freigekommen sind?
Zum Wesen von Gnadenerweisen gehört, daß sie nicht nach festen Kriterien erfolgen — anders als bei gesetzlichen Bewährungsaussprüchen. Deswegen gab es da sicher keine festgelegten Kriterien. Generell aber ist man nicht unverantwortlich vorgegangen. Allerdings bestand nicht die Chance, die Entlassung längerfristig vorzubereiten. Wenn jemand einen Mord begangen hat und lebenslänglich bekommen hat, sind 21 Jahre Haft eine nicht unangemessene Zeit.
Die jetzige öffentliche Aufregung kommt daher, weil die Opfer zwei Kinder sind und der Täter jemand ist, der schon mal einen Mord begangen hat. Dabei ist die Rückfallquote bei Mördern mit die geringste. Aber wer 21 Jahre in der DDR gesessen hat, der kann kein normaler Mensch mehr sein.
Wie reagieren Sie auf dieses Gefährdungspotential?
Bei Stafgefangenen, die aus der DDR stammen, wird sehr intensiv versucht zu erkunden, welche Bedingungen sie dazu gebracht haben, so zu werden, um ihnen zu helfen, in Zukunft nicht mehr mit Aggressionen auffällig zu werden. Aber was man mit Menschen tun kann, die perspektivlos und ohne Arbeit sind, in einer Zeit, in der Jugendheime geschlossen werden oder eine soziale Betreuung überwiegend wegfällt, in der sie besonders nötig wäre, diese Frage muß man nicht der Justiz, sondern der Gesellschaft stellen. Gespräch: Gerd Nowakowski
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