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IN VIRUS VERITAS

■ „Heimatklänge“, fesch gequetscht: Das Akkordeon im Tempodrom

Man kann es kaum glauben, aber wahr ist es trotzdem: Die Leute wollen Abwechslung und niemand wird sie hindern, danach zu trachten. Beim Stichwort (fremde) „Heimatklänge“ landen sie scharenweise vor den Zelten, Nacht für Nacht, ob's regnet oder nicht und träumen, wie unsere Vorfahren in der Nachkriegszeit, vom Exotikum in Übersee. Galanter Programmwechsel Nr.3 für diesen Wochenrest: Zwei Bands zeigen, daß Reeperbahn-Troubadour Hansi A. das Schifferklavier keineswegs damals in der Elbe versenkt hat.

Die Londoner Band „Accordions go crazy„ bevölkern gegen 21.30 Uhr zu sechst die Freiluftbretter. Richtig multi -instrumental langen die sich sonst so gesittet gebenden Briten zu. Trompete, Posaune und Bratsche geben her, was das schräge Zeug hält, und ein ordentlich blasser Scha-lagzeuger kittet die Basis. Es kommt, was kommen sollte. Unterhaltungsbedürftige werden von oben herab mit Stimmung abgefüllt. Hier ein flottes Fideln, da ein finstrer Pub aus der Posaune. Zwölf Beine, die den Takt ins Holz nageln und wilde, unorientierte Refrains aus Frauen- und Männerkehlen. Aber das Wichtigste: Drei Akkordeons in den schönsten Ausführungen, aufgepumpt mit Luft, pressen lustige Volksweisen und provinzielle Festsaal-Tänzchen aus dem aufgeblähten, gerippten Leib. Schnell ist die Musik und heulbojenhaft der Klang im Kollektiv.

Nur noch mühsam lassen die infizierten Freudesmienen einen passieren. Alle halten fest zusammen und schunkeln schon ansatzweise. Aus Feinden werden Freunde in dieser Nacht. Aber das ist noch nicht alles. Denn der Haupt-Act fehlt ja noch. Gegen elf denkt noch niemand an Trennung. Im Gegenteil, man drängt stoßtruppenweise Richtung Licht, Richtung Leben. Die Spannung steigt. Dann sieht man es: Die Sporen werden gewetzt, die Saiten gespannt und die Ponchos umgeworfen. Den Uninformierten trifft es wie ein Schlag, unter den Wissenden rumort es: Flaco Jimenez aus Texas reitet mit seinen Gauchos und einem Akkordeon, das keine Tasten, sondern flache Knöpfe besitzt, ein. An jeweils zwölf Saiten feuern zwei Mexikaner die Rhythmussalven ab. Einer gehört zur sentimentaleren Sorte, der ausschmachtet, was das Blues- und Countrymetier am Wüstenlagerfeuer bereithält, der andere Gringo könnte ohne weiteres im Italo-Western einen kleinen schmierigen Bauern, beim Aufstand mit Forke bewaffnet, mimen. Der hat die Chili-gepfefferten Rucki-Zucki -Kanonen im Halfter und einen glasigen Blick vom Binding -Bier.

Endlich: Avantgarde Marke Wildwest-Import. Tex-Mex-Music heißt das. Richtig heftige Gassenhauer mit Balkan-Einschlag und French Connection. Daß die Menge besonders auf die allseits bekannten Ayayayas abfährt, und ihre Chorparolen in den Himmel schießt, wundert mich erst gar nicht, das kühle Europäerblut hat halt den Siedepunkt erreicht. Flaco Jimenez, mit einem zynischen Clark-Gable -Grinsen im Gesicht und frisch gepelltem Krokoleder an den Füßen, tüdelt mit dem Akkordeon fesch die zappelnden Melodien dazu. Nicht nur das, der herbe Kakteenblick, die gegerbte Haut, sein reifes Alter und das unwiderstehliche US -Timbre reißen einen gnadenlos zu Boden. Doch Grizzly Adams am Baß stiehlt ihm fast die Show. So vertretermäßig gekleidet, dunkel die Schunkeltöne brummelnd, muß man ihn einfach gern haben. Und die Grenzen der Ausgelassenheit sind ja längst noch nicht erreicht: Ein schlaksiger Lucky-Luke -Gitarrist mit Original-Kippe im Mundwinkel erscheint und gibt ihnen mit einem wiehernden Gast-Blues fast den Rest.

Da gibt es nicht mehr viel zu sagen, das muß man selbst gesehen haben, ich versteh‘ die Welt nicht mehr, früher war alles noch ganz anders. Was war das noch für ein Buhen und Bähen, wenn Opa die Stimmungs-LP aufgelegt hat. Aber das La -Bamba-Lied haben wir bis heute nicht vergessen.

Connie Kolb

Flaco Jiminez und Accordions Go Crazy noch heute um 21.30 Uhr und morgen um 15 Uhr im Tempodrom.

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