IN STUTTGART SUCHTEN DIE GRÜNEN SICH SELBST. MIT ERFOLG: Parteitag der Selbstvergewisserung
Haben sich die Fundis durchgesetzt? Diese schlichte Sicht auf den bündnisgrünen Parteitag ist verführerisch. Haben die Delegierten nicht mehrheitlich die Wiederherstellung des alten Asylrechts, die Trennung von Amt und Mandat gefordert? Sind die Grünen also nicht offensichtlich auf dem Weg zurück zu ihren alten Werten, wie manche hoffen, oder zu altem Streit, wie andere fürchten? Mitnichten. So viel Symbolismus wie in Stuttgart hat sich die Partei schon lange nicht mehr geleistet.
Die Grünen sind mehr als andere Parteien auf Selbstvergewisserung angewiesen. In ihrer Geschichte gibt es keinen gemeinsamen emotionalen und rationalen Fixpunkt, auf den sich die Mitglieder beziehen können, wenn ihnen das Ziel abhanden gekommen ist. Die SPD kann sich aus den Idealen der Arbeiterbewegung, die Union aus dem christlichen Wertekanon herleiten. Die Grünen hingegen sind auf Akte der Selbstvergewisserung angewiesen. Deshalb lauert in jedem Parteitag die Gefahr, sich selbst zu überheben.
Für manche Grüne gilt noch immer: Je mehr ein Beschluss der Wirklichkeit zuwiderläuft, umso stärker glauben sie ganz bei sich selbst zu sein. So war es auch diesmal: Für eine Änderung des Asylartikels im Grundgesetz braucht man eine Zweidrittelmehrheit im Bundestag, also auch und in allererster Linie die Hilfe der SPD – womit sich die Frage nach einer Umsetzung schnell erübrigt. Und was die Trennung von Amt und Mandat angeht, wird die Zeit eine Lösung herbeiführen. Prüfaufträge, Anhörungen – es gibt viele Wege, einen Parteitagsbeschluss an der Wirklichkeit scheitern zu lassen. Der Formelkompromiss zu den Castor-Transporten war von ähnlichem Symbolgehalt.
Ob die Öffentlichkeit noch versteht, unter welchem Transparent Grüne künftig gegen Atomkraft demonstrieren – Hauptsache, die auseinander fliegenden Kräfte werden für einen kurzen Augenblick gebunden. Es geht um Selbstbeschwörung. Der gewaltige Unterschied zwischen Castor und den anderen Themen des Parteitages liegt in der unmittelbaren politischen Wirkung, die eine Entscheidung gegen den Atomkonsens nach innen und außen entfaltet hätte. Einen solchen Prozess der Selbstzerstörung wollten die Delegierten jedoch nicht, zumal sie mit der Wahl von Claudia Roth ein Signal für Stabilität gesetzt hatten. In dem ungeheuren Ergebnis ist jene Sehnsucht nach Klarheit, die die Grünen so lange vermisst haben. 91,5 Prozent – solche Ergebnisse können SPD, FDP oder Union bei der Wahl ihrer Vorsitzenden vorweisen. Sicherlich wird das Ergebnis Roth gegen Kuhn stärken. Aber ob es das stärkt, wofür sie steht, das darf bezweifelt werden. 91,5 Prozent sind auch der Auftrag, die Partei mit sich selbst zu versöhnen. Mit ihren ersten Auftritten hat Roth gezeigt, dass sie dieses Signal verstanden hat. Tapfer verteidigte sie vor den Delegierten den Beschluss zu den Castor-Transporten. Schon sehen manche Grüne, die dem realpolitischen Flügel nahe stehen, in der neuen Vorsitzenden eine weitaus wirksamere Integrationsfigur, als es die alte in ihrer kurzen Amtszeit war. Renate Künast war links, aber auch ein wenig spröde; Roth ist links und hat Gefühl. Das braucht die Partei gerade dann, wenn sie nicht so recht weiß, wohin die Reise eigentlich gehen soll.
Insofern fügt sich die Wahl Roths in jene Politik des Symbolischen, die die Grünen in Stuttgart zelebrierten. Mit ihr wird sich aber auch erweisen, welche Wirkungen die Linken entfalten können. Schon bald werden die von manchen ihrer Anhänger auf die neue Vorsitzende projizierten Hoffnungen dem harten Alltagsgeschäft zur Überprüfung vorgelegt. Mehr als nur einmal wird Roth ihre Anhänger in ihrer neuen Rolle enttäuschen. Vielleicht bleibt ihr das Schicksal einer anderen Hoffnungsträgerin der Linken erspart. Als die Hamburgerin Antje Radcke im Kosovo-Konflikt nach einem quälenden Selbstklärungsprozess den Nato-Einsatz befürwortete, wurde sie schnell fallen gelassen. Denn auch das gilt für Teile der Grünen: So begeistert sie sich eine neue Ikone ausgucken, so schnell sind sie auch bereit, sie zu zerstören.
Ein neuer Krieg, der Roth ähnlich wie Radcke vor eine grundsätzliche Entscheidung stellen würde, ist nicht in Sicht. Das ist ihr Glück. Und das von Fritz Kuhn. Alles andere, was an Konflikten aus der Partei an die Spitze herangetragen wird, wird dieses Duo ausgleichen können. Mit Formelkompromissen und einem gehörigen Maß an Symbolik.
SEVERIN WEILAND
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