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IN RIOS SUPERMÄRKTEN HÄUFEN SICH DIE PLÜNDERUNGEN

„Besser als der Hungertod“

Rio de Janeiro (ips/dpa/taz) — In Rio de Janeiro wurden in den letzten 30 Tagen zwölf Supermärkte von Bewohnern der Favelas genannten Elendsviertel geplündert. Ähnliche Vorfälle werden mittlerweile aus allen Großstädten Brasiliens gemeldet. Seit Mittwoch sind etwa 170 Polizisten zum Schutz der Geschäfte in Rio abkommandiert. Die Plünderungen geschehen aus Hunger und Verzweiflung über die lange Wirtschaftskrise, sagen Beobachter und Täter übereinstimmend.

Die Plünderer gehen mittlerweile geplant vor. Das wurde bisher erst in dieser Stadt bemerkt, erklärt der Chef des Generalstabs der Militärpolizei von Rio, Oberst Jorge da Silva. „Wir haben keinen Zweifel, daß die Plünderungen eine Konsequenz der Krise sind, in der sich das Land befindet“, meint da Silva. Der Präsident der Vereinigung der Bewohner der „Favela de la Mare“, Rogerio Campos, pflichtet ihm bei. „Hier leben nur Arbeitslose“, sagte er. In drei der zwölf Fälle wurden Bewohner der „Favela de la Mare“ für die Einbrüche verantwortlich gemacht. Plündern und dabei Gefahr zu laufen, ins Gefängnis gesteckt zu werden, sei immer noch besser, als den Hungertod zu sterben, meinte die 50jährige Alzira Neves, als sie von der Polizei verhaftet wurde. Die seit einem halben Jahr Arbeitslose war beim nächtlichen Ausräumen eines Supermarkts im Norden der Stadt ertappt worden. Sie lebt seit fünf Jahren zusammen mit ihrem Mann und den drei Kindern in der „Favela de Queto“. Sie lebt in einer „Mietwohnung“. Das ist eine aus Holz- und Kartonresten zusammengebastelte Baracke von nicht einmal zehn Quadratmetern. Die Miete beträgt etwa 14 US-Dollar und frißt ein Drittel des Monatsgehalts ihres Mannes. Die offiziellen Statistiken über die soziale Lage im Land weisen seit Jahren immer stärker auf die Möglichkeit einer gewaltsamen Explosion der Unzufriedenheit hin. In Brasilien verfügen 20 Millionen Arbeitsfähige bei einer Gesamtbevölkerung von 153 Millionen über kein regelmäßiges Einkommen. Die Arbeitslosigkeit ist allein in den ersten vier Monaten dieses Jahres um weitere zehn Prozent gestiegen, so das Intergewerkschaftliche Institut für sozioökonomische Studien und Statistiken (DIEESE). Innerhalb dieses kurzen Zeitraums haben 1,2 Millionen Menschen ihren Arbeitsplatz verloren. Die monatlichen Inflationsraten liegen bei knapp über 20 Prozent. Grundnahrungsmittel wie Reis und Bohnen verteuern sich dagegen monatlich um 27 Prozent, was die Lage noch weiter verschärft. „Die Verarmung im Land hat sich zuletzt beschleunigt. Es wird jedoch nichts dagegen getan“, erklärt der technische Direktor von DIEESE, Walter Barelli. „Die Plünderungen in den ärmsten Vierteln der großen Städe sollten niemanden überraschen.“ Der Gouverneur des Bundesstaats Rio de Janeiro, Leonel Brizola, weiß: „Die Polizei muß dagegen vorgehen.“ Aber „der Hunger des Volkes kann nur sehr schwer bekämpft werden. So lange wir die wirtschaftliche Krise nicht überwinden, werden wir auch dieses Problem nicht lösen.“

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