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IN DEUTSCHLAND BILDET SICH EINE ETHNISCHE UNTERSCHICHT HERAUSScheindebatte Leitkultur

Ein monatliches Ritual, auch gestern wieder: Die Bundesanstalt für Arbeit gibt die Arbeitslosenzahlen bekannt. Doch unabhängig von saisonalen und konjunkturellen Einflüssen bleibt ein Fakt immer konstant – die Arbeitslosenquote bei Ausländern liegt weit über der Gesamtquote. Im Januar waren es 17,5 Prozent bei Nicht-Deutschen, 11,1 insgesamt.

Dieses Drama einer fehlgeschlagenen Integration beginnt jedoch nicht im Erwerbsleben, sondern weit früher: 20 Prozent der ausländischen Schulabgänger haben keinen Abschluss; 30 Prozent der Nicht-Deutschen, die zwischen 20 und 29 Jahre alt sind, bleiben ohne Berufsabschluss. Bei den türkischen Jugendlichen sind es sogar 40 Prozent. Insgesamt gilt: Kinder und Jugendliche aus Migrantenfamilien sind extrem überrepräsentiert in den Sonderschulen und extrem unterrepräsentiert in den Gymnasien und Universitäten. Diese Zahlen drücken einen politischen Skandal aus: In Deutschland bildet sich eine ethnische Unterschicht heraus.

Höchste Zeit also, dass die Politik aufwacht, statt Scheingefechte über die deutsche Leitkultur zu führen. Deutschland ist ein Einwanderungsland. Dennoch bleiben die nötigen bildungspolitischen Entscheidungen aus. Was sind schon 1,2 Millionen Mark, die jetzt erstmals für vorschulische Sprachkurse in Nordrhein-Westfalen bereitgestellt werden, wenn dort zwei Millionen Menschen ohne deutschen Pass leben? Gleichzeitig aber wird in allen Bundesländern trotz knapper Haushaltskassen keine Anstrengung gescheut, um Englisch in der Grundschule einzuführen. Es sind Mittel, die für die Förderung der Migrantenkinder fehlen.

Dabei wird nicht bedacht, was Englisch schon in der Grundschule für die vielen Migrantenkinder bedeutet, die weder ihre Muttersprache noch Deutsch beherrschen: Der zweite Schritt wird vor dem ersten gemacht. Für Deutsch als Zweitsprache wie für zusätzliche Sprachen gilt, dass sie nur erworben werden können, wenn die Muttersprache gefestigt ist. Doch auch für diese Alphabetisierung in der Herkunftssprache stehen kaum Mittel zur Verfügung. Also werden viele Kinder aus Migrantenfamilien fatale Misserfolge erleben, da die meisten Bundesländer entschlossen sind, die Leistungen in Englisch zu benoten. Ausgrenzung wird faktisch zum Lehrplan der Grundschulen erhoben. Dabei werden auch jetzt schon Migrantenkinder zunehmend auf Sonderschulen abgeschoben. Alles sichere Indizien, dass von einer Integrationspolitik nicht die Rede sein kann.

Was lässt sich tun? Isolierte Maßnahmen zur Sprachförderung würden zu kurz greifen. Die meisten Migrantenkinder wachsen in Armut auf, wie der Sozialbericht 2000 der AWO ausweist. Das bedeutet: Die Sprachförderung muss die Lebensumstände berücksichtigen. Dazu gehört auch, dass die Förderung so früh wie möglich im Kindergarten einsetzt – und die Mütter einbezieht. Sie müssen die Chance bekommen, gemeinsam mit ihren Kindern Deutsch zu lernen. Dies ist auch ein erster Ansatz, um die häusliche Isolation der Frauen zu durchbrechen.

Doch auch der Unterricht in der Muttersprache muss ausgebaut werden. Bisher gibt es einige Modelle für die türkisch-deutsche Alphabetisierung; sie sollten endlich zum Standard werden. Darüber hinaus sollten Kindergarten und schuliche Betreuungsangebote für Eltern mit geringem Einkommen – und dazu gehören auch Migranten – kostenfrei sein, damit ihre Kinder auch erreicht werden. Die Schulen für „Lernbehinderte“, seit jeher Orte für Arme, sind in einem demokratischen Schulsystem obsolet. Und auch die starre Trennung der Schultypen von der Hauptschule bis zum Gymnasium muss als soziale Barriere abgebaut werden. Stattdessen sollten die Schüler individuelle und differenzierte Förderung erfahren.

Selbst als Milliardenprogramm ist dies nicht nur kostenneutral, sondern gewinnbringend – wenn gegengerechnet wird, was die Ausgrenzung kostet. Ein Gutachten im Auftrag von Nordrhein-Westfalen errechnete „einen fiskalischen Verlust bei Nichtintegration von Ausländern“ in Höhe von sieben bis zwölf Milliarden Mark für die alten Bundesländer und für NRW in Höhe von 1,5 bis drei Milliarden Mark. Das Gutachten wurde schon 1996 veröffentlicht – bis heute blieb es politisch wirkungslos. BRIGITTE SCHUMANN

Lehrerin und Sprecherin der AG Schule und Bildung der Grünen in Nordrhein-Westfalen

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