IN DER KURVE : Ein perfekter Moment
Alle Kippfenster sind auf, in der S-Bahn zieht es wie blöd. Gerade macht das aber nichts, denn die Luft ist lau und krault schön am Kopf. Ich fahre den Ring im Uhrzeigersinn, Südkreuz bis Wedding, und bin dabei ein bisschen alkoholisiert – ganz dezent wohlgemerkt, gerade ausreichend, um das Schaukeln des Wagens sehr angenehm zu finden. Draußen steht die Sonne schon tief. Die Bahntrasse liegt im Schatten, aber dahinter leuchten die Fassaden in warmem Ocker. Ich stütze den Kopf auf, schließe die Augen und denke an nichts.
Schräg gegenüber fängt eine Frau an zu telefonieren. Sie lacht dabei viel. „Haha, Janko“, sagt sie, „das muss dir doch nicht peinlich sein. Doch nicht vor diesen Tussis. Hahaha.“ Ich öffne die Augen einen Spalt. Die Frau ist attraktiv und ihre Kleidung wirkt leicht ungepflegt, mit modischer Absicht allerdings, wie mir scheint. „Das wertet ja unsere Freundschaft total auf, Janko“, sagt sie. „Hahahaha!“
Die Frau steigt aus, es wird ruhig im Wagen. Noch immer streichelt der Wind das Gesicht, als die S-Bahn beginnt, die Schnauzenspitze des Hundekopfs zu umrunden. Hundekopf – für alle, die das noch nicht wissen – ist ein anderer Name für den S-Bahn-Ring. Ein Blick auf den Stadtplan erklärt, warum. Und die Hundeschnauzenspitze ist die engste Kurve der gesamten Strecke.
In diese Kurve legt sich nun die Bahn. Sie neigt sich dabei leicht nach innen, von mir aus gesehen nach rechts, und es sieht fast so aus, als werde die Stationsanzeige, die im Display an der Decke gelblich-grün nach links wandert, durch die Fliehkraft bewegt. Es ist wie Achterbahnfahren in Zeitlupe.
Gleich ist das alles wieder vorbei. Gleich fährt der Zug wieder geradeaus, erlischt draußen die Sonne, wird der Wind unangenehm kühl. Aber gleich ist gleich, und diese Sekunde und die nächste und die danach wahrscheinlich auch noch, die sind perfekt. CLAUDIUS PRÖSSER