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Archiv-Artikel

IM TINTENLADEN Modell 22

Ich habe das unbestimmte Gefühl, etwas verpasst zu haben

Eben war ich im Tintenladen. Meine Druckerpatrone war alle. Die schwarze. Die bunte war sowieso eingetrocknet. Ich drucke meine Texte seit Jahren „in Graustufen“ aus. Aber weil bei uns der Wohlstand ausgebrochen ist, seit ich die offizielle Zonengaby der taz bin, dachte ich heute: „Rock ’n’ Roll, was kostet die Welt? Jetzt lass ich’s richtig krachen!“, und ging in den Tintenladen, um zwei neue Druckerpatronen zu kaufen, eine schwarze und eine bunte. Wahnsinn!

„Hallo, ich möchte bitte zwei neue Druckerpatronen“, sage ich zu den zwei Verkäuferinnen hinter der Theke und packe meine leeren Patronen aus. „Gerne die billige Sorte“, füge ich hinzu. Bin schließlich taz-Kolumnistin und nicht bei der FAZ. Die beiden Verkäuferinnen gucken auf die Patronen, dann gucken sie mich an, dann sich gegenseitig. Ich habe das unbestimmte Gefühl, irgendwas verpasst zu haben.

Die schwarzhaarige Verkäuferin geht zum Regal und holt eine schwarze Auffüllpatrone. Ihre Haare sind gefärbt, glaube ich und finde das sehr passend. „Die bunten sind grad nicht lieferbar“, sagt sie. „Ach, das ist ja blöd“, sage ich. „Welches Modell ist denn das?“, will die andere Verkäuferin wissen. Sie hat rote Haare, auch gefärbt. „22“, sagt die Schwarzhaarige und guckt wieder so bedeutungsvoll: auf die Patrone, zur Kollegin, zu mir und noch mal zur Kollegin. Ob meine Wimperntusche verschmiert ist? Mein Hosenstall offen? Hängt mir eine Nudel im Gesicht?

Die rothaarige Verkäuferin lässt die Hand über den Tresen wandern, hin zu den drei Patronen, den zwei leeren und der schwarzen vollen. Als sie die Hand wieder wegnimmt, liegt plötzlich eine vierte Patrone da. Farbe. 22. „Die schenken wir Ihnen“, sagt die Rothaarige. Ich verstehe kein Wort. „Eine Kundin kam heute damit und wollte sie uns verkaufen“, erklärt sie mir, „aber das ging ja nicht. Da meinte sie, wir sollten sie verschenken.“LEA STREISAND