IM KOSMOS: Was wird aus den sowjetischen Wissenschaftlern?
Der Glanz der Naturwissenschaften ist verblaßt, überall fehlt es an Geld, um die Gehälter weiter zu bezahlen. Die Forscher suchen nach Überlebensperspektiven, in Unternehmen oder Kooperativen. Und wer kann, wandert Richtung Westen ab. ■ VON BRIGITTE BREUILLAC
„Wer übernimmt jetzt die Finanzierung?“ fragen sich die Forscher. „Was wird aus uns? Wir produzieren schließlich keine Konsumgüter.“ In Moskau kann man solche leidigen Fragen nun häufig hören.
Für die Forscher am Institut für theoretische und experimentelle Physik der Akademie der Wissenschaften war es ein harter Schlag, als sie im letzten Sommer feststellen mußten, daß nicht mehr genug Geld vorhanden war, um ihre Gehälter zu bezahlen. Vor der Entlassung bewahrten sie sich durch einen besonderen Trick: Sie alle nahmen sich langen „Urlaub“, arbeiteten aber weiter. Drei Monate später kamen neue Gelder, und sie erhielten die ausstehenden Gehälter.
Damit war auch für den letzten Zweifler der Schlußpunkt unter jene Epoche gesetzt, in der die Wissenschaftler aus dem staatlichen Füllhorn reich bedacht worden waren. Damals hatte die Förderung der Forschung Priorität: Schließlich hatte man unablässig beteuert, daß der Fortschritt der „wissenschaftlich-technischen Revolution“ unaufhaltsam in die strahlende Zukunft des Sozialismus führe.
Von den Forschungsergebnissen profitierte natürlich in erster Linie das Militär, die Sowjetunion konnte sich ja im Rüstungswettlauf nicht von den USA überholen lassen. Heute ist dagegen nur noch von Abrüstung und von der Einführung ziviler Produktionsziele in der Rüstungsindustrie die Rede. Mit dem Kult um die Naturwissenschaften ist es vorbei, Astrophysik und Atomphysik haben ihren Glanz verloren. Jetzt sind die Wirtschafts- und Finanzwissenschaften im Aufwind, dort finden sich die brillantesten Köpfe.
Seit 1949, als die erste sowjetische Atombombe gezündet wurde, war die Physik das Lieblingskind der Wissenschaftspolitik in der UdSSR gewesen. Bis in die siebziger Jahre dauerte der bemerkenswerte Aufschwung der Physik – und der bemannten Raumfahrt. Inzwischen werden die Erfolge des sowjetischen Raumfahrtprogramms allerdings von den wirtschaftlichen Problemen überschattet. Wie soll man die Erforschung der Jupiteratmosphäre begründen, solange es nicht gelingt, die Regale in den Läden zu füllen?
Auch im Forschungssektor wird jetzt der Begriff der Rentabilität eingeführt: Die Betriebe sind nicht mehr bereit, fruchtlose Projekte zu finanzieren. Früher war das durchaus üblich. Eine Physikerin berichtet: „Die Betriebe haben den Forschungszentren in der Regel Gelder für Scheinprojekte gezahlt.“ Inzwischen herrscht das Gesetz des Mangels.
Dem Staat, der prinzipiell für den größten Teil der Kosten aufkommen muß, fällt es zunehmend schwer, die notwendigen Mittel bereitzustellen. Also muß man auch in den Instituten, die mit der Grundlagenforschung befaßt sind, betriebswirtschaftlich kalkulieren und sich um Aufträge aus den Betrieben bemühen. Ein Institut für Physik an der Akademie der Wissenschaften bearbeitet zum Beispiel den Auftrag, die Zementproduktion eines Betriebes zu optimieren. Mit Theorie und Grundlagenforschung, der eigentlichen Aufgabe hochqualifizierter Wissenschaftler, hat das wenig zu tun.
Und natürlich beginnen die Forscher abzuwandern – aber es ist schwer festzustellen, in welchem Ausmaß dies geschieht. In manchen Forschungslabors fehlt fast ein Viertel des Personals, aber man weiß nicht recht, ob es sich um Kündigungen oder längere Abwesenheiten handelt.
Daß mit der Welle der Emigration sowjetischer Juden auch zahlreiche Forscher ausgewandert sind, steht dagegen außer Zweifel. Viele Wissenschaftler, vor allem die jüngeren, die keine Chancen mehr sehen, eine professionelle Karriere zu machen, haben sich in kleinen Privatunternehmen und Kooperativen engagiert, wo bislang kaum mehr als der Lebensunterhalt zu verdienen ist.
Immer deutlicher zeichnet sich ab, daß ein Brain-Drain droht. Seit die Grenzen offen sind, können viele den Verlockungen des Westens, und vor allem der USA, nicht widerstehen. Manche finden eine Stelle an einer Universität oder in einem Forschungszentrum und richten sich dauerhaft ein, andere begnügen sich mit Übergangslösungen, gestützt auf Stipendien oder befristete Arbeitsverträge.
Sergej ist schon über vierzig; 1988 konnte er zum ersten Mal ins Ausland reisen. „Ich bin auch früher oft zu Kongressen eingeladen worden“, erzählt er, „aber die Institutsleitung hat systematisch verhindert, daß ich hinfahren konnte.“
Seit zwei Jahren hat er nun in verschiedenen europäischen Ländern und in den Vereinigten Staaten einen Forschungsauftrag nach dem anderen abgewickelt – zwischendurch kommt er kurz nach Moskau, wo er noch immer angestellt ist. So kann er seine Arbeit weiterverfolgen und zugleich die Vorzüge der besseren Lebensbedingungen im Ausland genießen. Wie vorteilhaft das ist, versteht man sofort, wenn man weiß, daß das französische „Nationale Zentrum für wissenschaftliche Forschung“ (CNRS) Stipendien in Höhe von 16.000 Francs (etwa 5.500 DM) monatlich bietet, ein (erfolgreicher) Forscher in der Sowjetunion dagegen nur um die 500 Rubel (auf dem freien Markt weniger als zwanzig Mark) erwarten kann.
„Die besten Köpfe verschwinden auf Nimmerwiedersehen“, beklagt sich Mischa, ein 33jähriger Physiker aus Moskau. „Die Leute begreifen nicht, was das für eine Katastrophe ist. Bald wird alles dahin sein, was in langer Arbeit aufgebaut wurde.“ Auch Mischa hat schon daran gedacht, ins Ausland zu gehen. Beruflich wäre das eine interessante Perspektive gewesen, und gleichzeitig hätte er seiner Familie einen recht angenehmen Lebensstandard bieten können. Schließlich wohnt er zur Zeit mit seiner Frau und den beiden Kindern in einer Einzimmerwohnung. Aber er hat beschlossen, zu bleiben und weiterzumachen.
Weil er sich für den Wandel in seinem Land einsetzen will, ist er geblieben, und deshalb war er auch auf den Barrikaden, in den drei Tagen, als der Staatsstreich versucht wurde. 1989, als die ersten halbwegs demokratischen Parlamentswahlen in der Sowjetunion stattfanden, hat er sich, wie viele seiner Physikerkollegen, politisch engagiert. Es gab damals im Vorwahlkampf eine heftige politische Auseinandersetzung an der Akademie der Wissenschaften, um die Kandidatur von Andrei Sacharow, der kurz zuvor aus der Verbannung in Gorki zurückgekehrt war. Im Institut für Hochtemperaturforschung, wo Mischa arbeitet, wurde Arkadi Muratschow zum Deputierten gewählt, ein junger Physiker in Mischas Alter.
Er gab die wissenschaftliche Laufbahn bald auf und entwickelte sich zu einer der wichtigsten Persönlichkeiten in der Reformbewegung. Inzwischen ist er von Gavril Popow in die Moskauer Stadtregierung berufen worden. Die Forscher können also Einfluß auf die politische Entwicklung nehmen, aber andererseits haben die politischen Instanzen in Fragen der Forschungsplanung immer noch ein Wörtchen mitzureden. Im Reigen der Umstrukturierung aller Ministerien ist das Komitee für Atomenergie an die Wand gespielt worden: es ist aufgelöst, seine Mitglieder wissen nicht, wie es weitergehen soll. Schlimmer noch: Auch die Zukunft der Akademien der Wissenschaften in der Sowjetunion ist höchst ungewiß. Jede Republik versucht die Zuständigkeiten an sich zu ziehen – was soll aus den Strukturen werden, die von der Zentralmacht abhängen und in die alle großen Forschungszentren der Sowjetunion eingebunden sind? Es steht zu befürchten, daß die Aufteilung dieses gemeinsamen Erbes eine Menge Probleme schaffen wird. Die Abgeordneten des russischen Parlaments haben bereits beschlossen, daß alle Institute in Moskau, Nowosibirsk und an anderen Orten Rußlands unter russische Verwaltung gestellt werden sollen.
Das sind wichtige Fragen, aber andere sind noch dringender – die Finanzierung zum Beispiel. Mischa erklärt: „In unserem Institut reichen die Mittel noch bis zum Jahresende. Wie es dann weitergeht, weiß man nicht...“
Brigitte Breuillac ist Redakteurin der Tageszeitung Liberation
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