■ IM KINO: DER NEUE KAURISMÄKI: Dörrfilm, hochwirksam
Am Anfang tanzen mit Lärm und Gestampfe die Maschinen, Walzen rotieren, Stangen fahren auf und nieder, alles nah, alles unbegreiflich; am Ende der Produktionsstraße steht verhärmt das Mädchen Iris; am Ende des Tages wird es ausgespien: Umkleide, Tor, Bus, Essen mit Mutter, Stiefvater, in schäbiger Düsternis. Aki Kaurismäkis neuer Film Das Mädchen aus der Streichholzfabrik ist ein ratzeböses Bildermärchen, eine filmische Depression.
Iris (Kati Outinen) hat eh bloß kümmerliche Wünsche: bißchen Liebesabfall, neues Kleid; zu kriegen sind aber nur Tritte. Der Film besteht einzig aus der Vernichtung seiner Figur. Seine Konsequenz ist enorm. Nicht das mindeste ist, in diesem Sinne, überflüssig.
Lokal. Schnitt. Schlagermusik. Iris sitzt auf einer Bank, neben ihr wird eine zum Tanzen geholt. Schnitt. Der Film hat eine radikal vereinfachte, eine Kindergrammatik: Iris sehr einsam. Lauter filmische Hauptsätze von genialer Lakonik: kurze Sequenzen, rasche Blicke, keine Pausen; und gar keine Abschweifung mehr in den bescheidenen Himmel der sonstigen Sozialromanzen; diese hier ist auch eine und geht aber geraden Wegs hinab.
Der Film spielt in einem mythischen, suburbanen Schattenreich von Hinterhöfen, wo Leben und Tod einander Gute Nacht sagen. Draußen ist Helsinki, blitzblank, schick und noch viel öder. Den ganzen Film lang sehen wir Orte des Essens, des Schlafens, des Arbeitens, entsetzlich zweckmäßig; was darüber ist, ist von geblümter Machart wie die Plastikdecke auf dem Küchentisch. Die Streichholzfabrik zerlegt die Bäume und die Zeit und das restliche Leben, was heißt Leben. Der Film, indem er unerbittlich die Geschichte abrollt, eins nach dem andern, ist selber ein Abbild der Taylorisierung, die er beschreibt, nur macht er keine Schwefelhölzchen, sondern eine seltsame Art von Frieden mit der Geschichte.
Der Film ist ein Abschied, ein Requiem auf das (Lumpen-)Proletarische im Kino: die in den irrsinnigsten Alptraum gesteigerte Pittoreske des Schäbigen macht dessen Wirklichkeit vergessen. Das ist natürlich in Ordnung so. Er erfüllt unsere Bedürfnisse nach wahrem, echtem Leid, ohne Beimischung. Er hat es, und hochverdichtet. Ein Dörrfilm, sozusagen, sentiments-abführend. Vielleicht jubelt deshalb die Kritik so über die Maßen. Manfred Dworschak
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